»...ein literarischer Weltbürger eigener Art
Der Kritiker, Herausgeber und Verlagslektor Kurt Pinthus gilt als einer der wichtigsten Vermittler und Chronisten des literarischen Expressionismus. Seine einzigartige Bibliothek gelangte in das Deutsche Literaturarchiv nach Marbach, als Pinthus nach 20 Jahren im amerikanischen Exil nach Deutschland zurückkehrte und sich in Marbach niederließ.
Kurt Pinthus wächst als ältestes von drei Kindern in einer bürgerlichen Kaufmannsfamilie in Erfurt auf. Seine Eltern waren jüdisch, aber die religiösen Bindungen hatten in der Familie an Bedeutung verloren. Pinthus studiert Geschichte, Literaturgeschichte und Philosophie an den Universitäten in Freiburg, Berlin, Genf und Leipzig, promoviert schließlich 1910 zum Dr. phil. Hin- und hergerissen zwischen dem wissenschaftlichen und literarischen Schreiben, schlägt er nach dem Studium eine publizistische Laufbahn ein, schreibt über zeitgenössische Literatur und Kino, lernt bereits in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg die Schriftsteller Franz Werfel und Walter Hasenclever sowie Ernst Rowohlt und Kurt Wolff kennen. Den Ort ihrer regelmäßigen Zusammenkünfte in Leipzig erklärte Pinthus rückblickend zum »Hauptquartier des jungen Expressionismus«.
Kurt Wolff, der nach zwei Jahren als Teilhaber des Ernst Rowohlt Verlags allein die Geschäfte weiterführt, stellt Kurt Pinthus 1912 als literarischen Berater ein. Der Kurt Wolff Verlag avanciert rasch zu einem der prägenden Verlage der Zeit. Dies gelingt vor allem durch die von Pinthus gemeinsam mit Walter Hasenclever und Franz Werfel – alle arbeiten für Wolff – initiierte Reihe ›Der jüngste Tag‹. Durch sie macht sich der Verlag einen Namen als Forum für eine neue, junge Literatur. Ein Verlagsprospekt erklärt programmatisch:
»Der Jüngste Tag stellt eine Sammlung von kleineren Werken jüngerer Dichter dar, die als charakteristisch für unsere Zeit und zukunftsweisend zu gelten haben. […] Die Dichtungen des ›Jüngsten Tages‹ sind gleich weit entfernt von lebensfremder Literatenliteratur wie von populärem Kitsch. Aus diesen Werken soll das Lebens- und Weltgefühl unserer Zeit strömen, ihre Entzückungen, Schmerzen, Begeisterungen, Reizsamkeit und Kraft. Menschliche Gefühle werden in knapper Form ausgedrückt und sollen menschliche Gefühle erwecken.«
Prospekt Der Jüngste Tag. Neue Dichtungen, Leipzig 1913
Dieses Statement verdeutlicht auch die Position von Pinthus selbst: Sinn für neue Stimmen und Formen sowie eine avancierte Verbindung von Ethik und Ästhetik. Der Verlag fördert Autorinnen und Autoren, die später oft mit dem Expressionismus gleichgesetzt werden: Gottfried Benn, Carl Ehrenstein, Walter Hasenclever, Emmy Hennings, Else Lasker-Schüler, Mynona und viele andere. Aber auch die ersten Publikationen von Franz Kafka und den Autoren des ›Prager Kreis‹ erscheinen bei Kurt Wolff. Nicht wenige jüdische Autoren prägen den Verlag, doch spielt Jüdisches jenseits des wichtigen Sammelbuchs »Vom Judentum« (Leipzig 1913) thematisch nur am Rande eine Rolle, auch für Pinthus. Dieser publiziert 1913/14 bei Kurt Wolff sein »Kinobuch«, einen frühen Versuch, die Beziehung zwischen Literatur und Film auszuloten. Der Erste Weltkrieg beendet die produktive Zusammenarbeit mit Wolff. Pinthus, der sich als Kriegsfreiwilliger gemeldet hatte, aber nach einer Verletzung im zivilen Bereich eingesetzt wird, bleibt weiter publizistisch tätig, 1917 veröffentlicht er noch eine Art persönliches Manifest »Über Kritik« in der expressionistischen Zeitschrift »Die Aktion«. Doch der Krieg verändert viel; der Kritiker kehrt 1918 nur noch für kurze Zeit als Lektor in den Kurt Wolff Verlag zurück.
Nach dem Ersten Weltkrieg zieht Pinthus nach Berlin und unterstützt ab 1919 als Berater und Lektor den neugegründeten Ernst Rowohlt Verlag, der ein ähnlich ambitioniertes, junges Programm führt und unter anderem Franz Hessel zu seinen Mitarbeitern zählt. Bei Rowohlt erscheinen Walter Benjamins »Einbahnstraße«, Musils »Der Mann ohne Eigenschaften«, Hemingway und Sinclair Lewis. Die Verlagsarbeit ist in vielerlei Hinsicht Ausgangspunkt eines intensiven intellektuellen Austauschs mit Künstlern und Künstlerinnen, Autoren und Autorinnen, den die im Deutschen Literaturarchiv bewahrte Bibliothek von Kurt Pinthus bis heute in Widmungsexemplaren, Erstausgaben und Sonderdrucken dokumentiert. Pinthus wird als Kritiker bekannt, schreibt über Bücher, Theater und Film, arbeitet für den Rundfunk, als Dramaturg für Max Reinhardt. Hunderte seiner Besprechungen erscheinen im liberalen »8-Uhr Abendblatt« und im »Tage-Buch«.
Für Rowohlt gibt Pinthus zudem die Reihe ›Umsturz und Aufbau‹ heraus. Und hier veröffentlicht er auch 1919 seine legendäre Anthologie »Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung«. Sein Vorwort trifft das Lebensgefühl einer literarischen Generation:
»Dieses Buch nennt sich nicht nur ›eine Sammlung‹. Es ist Sammlung!: Sammlung der Erschütterungen und Leidenschaften, Sammlung von Sehnsucht, Glück und Qual einer Epoche – unserer Epoche. Es ist gesammelte Projektion menschlicher Bewegung aus der Zeit in die Zeit. Es soll nicht Skelette von Dichtern zeigen, sondern die schäumende, berstende Totalität unserer Zeit. […] In diesem Buch wendet sich bewußt der Mensch aus der Dämmerung der ihm aufgedrängten, ihn umschlingenden, verschlingenden Vergangenheit und Gegenwart in die erlösende Dämmerung einer Zukunft, die er sich selber schafft.«
»Pinthus ist der Dirigent eines wilden Orchesters«
»Pinthus ist der Dirigent eines wilden Orchesters. Und sein Vorwort selbst ist purer Expressionismus«, konstatiert Florian Illies 2019 in der jüngsten Neuausgabe dieser oft aufgelegten Anthologie. So avantgardistisch sich das Manifest liest, so sehr steht dahinter aber auch eine klassische Wirkungsästhetik. Und so sehr markiert das Buch den Abschluss einer Zeit. Unter den Überschriften »Sturz und Schrei«, »Erweckung des Herzens«, »Aufruf und Empörung« und »Liebe den Menschen« ordnet Pinthus die Dichtung seiner Zeit zum subjektiven Epochenbild an, stellt 23 zeitgenössische Autorinnen und Autoren vor – darunter Gottfried Benn, Iwan Goll, Walter Hasenclever, Georg Heym, Else Lasker-Schüler, Ernst Stadler, Georg Trakl und Franz Werfel. Der Band ist ein sensationeller Erfolg, 1922 erscheint das 15.–20. Tausend der Anthologie. Pinthus zählt da zu den ›Star-Kritikern‹ seiner Zeit, steht im Zentrum der Literaturszene der Weimarer Republik. Heute gilt die Anthologie als Standardwerk des literarischen Expressionismus, die Auswahl ist noch immer repräsentativ: eine der erfolgreichsten Gedichtsammlungen der Literaturgeschichte – trotz des Verbots durch die nationalsozialistische Regierung 1933.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 gelangen auch die Schriften von Pinthus auf Listen ›verbotener Literatur‹. Nur durch Kontakte zu Hanns Johst, der 1933 zum Vorsitzenden der Sektion Dichtkunst an der Preußischen Akademie der Künste avanciert war und 1935 Präsident der Reichsschrifttumskammer wurde, erreicht Pinthus eine Streichung seines Namens und kann zunächst weiterarbeiten. Johst verdankte ihm die Publikation seines ersten Dramas im Kurt Wolff Verlag. Ab 1934 verschwindet der Name Pinthus allerdings aus den Feuilletons der Zeitschriften, die er lange Zeit mitgeprägt hatte. »Publizieren konnte er zwar weiterhin«, schreibt Hanne Knickmann in ihrem Porträt, »doch seine Artikel konzentrierten sich nun auf jüdische, meist literarische Themen und erschienen ausschließlich in Publikationen jüdischer Organisationen«. (Knickmann, S. 59) Pinthus engagiert sich im Jüdischen Kulturbund, fordert die Schaffung einer Filmabteilung, setzt sich in Besprechungen mit der seit Jahrzehnten diskutierten und durch die zunehmende Ghettoisierung jüdischer Kultur in Deutschland bedrängenden Frage nach der Möglichkeit einer deutsch-jüdischen Literatur auseinander. 1936 wird ihm schließlich Publikations- und Redeverbot erteilt, die Grundlage seines Lebensunterhalts entzogen. Nun sucht Pinthus nach Möglichkeiten Deutschland zu verlassen, nachdem auch Freunde zur Emigration drängen, darunter sein enger Freund Walter Hasenclever, der sich 1940 in einem französischen Internierungslager aus Furcht, in die Hände der Deutschen zu geraten, das Leben nimmt.
Pinthus gelingt es, im August 1937 unter dem Vorwand einer »Studienreise« und Recherchen für das »Gemeindeblatt der jüdischen Gemeinde« zeitlich befristet nach New York einzureisen und seine Emigration vorzubereiten. Er bemüht sich um Kontakte zu amerikanischen Institutionen – in der Suche nach Arbeitsmöglichkeiten in einer Stadt, in der in diesen Jahren unzählige Emigranten und Flüchtlinge ein Auskommen suchen. Pinthus findet in New York schließlich Kontakt zur 1919 gegründeten New School for Social Research, die im Rahmen der von Alvin Johnson gegründeten University in Exile zahlreichen verfolgten jüdischen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen mit Hilfe von Stiftungen und Geldgebern eine Anstellung bietet. Im Dezember 1937 kehrt Pinthus zwangsweise nach Nazi-Deutschland zurück, ohne konkrete Zusage der New School. Er lebt mehrere Monate versteckt in Berlin, bis Alvin Johnson schließlich einen Sponsor für eine Stelle als ‚Lecturer‘ für Film- und Theatergeschichte findet. Im Mai 1938 kann Pinthus in die USA einreisen und auf bislang nicht geklärten Wegen sogar seine Bibliothek und sein Archiv dorthin retten.
Seine Ankunft in New York wird in der Presse und Berichten von Freunden auch als Rettung der einzigartigen Bibliotheken gewürdigt. Aus ihrem Fundus kuratiert Pinthus in der New School eine Ausstellung, die den Bestand als Zeugnis und Denkmal einer Zeit, aber auch als politischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus zeigt:
»›Even books have their own fates‹. These books, too, have had their fates in more than one sense. They began one fate when they came out of the world of the poet’s imagination to enter the world of reality. And they began another fate, when the Nazis banned and burned these books. Their last fate as an adventurous one, when all these books at one time came over to this country, transported by their own severest enemies.«
Pinthus, Eröffnungsrede, DLA
Nach zwei Jahren endet Pinthus’ Anstellung an der New School. Zu den andauernden Existenzängsten tritt die Sorge um die Unterbringung seiner Sammlungen. 1941 stellt ihn, nach vielen erfolglosen Bemühungen um Jobs, die Library of Congress in Washington als Berater für die Bestände zum europäischen Drama ein; nichtstaatliche Einrichtungen kommen für ein geringes Gehalt auf. Neben dieser Tätigkeit schreibt Pinthus kleine Beiträge für Zeitschriften und Rundfunk, arbeitet für das Office of War Information. 1944 gelangte Pinthus’ Schwester Else noch aus Europa über Kuba nach Washington. Als der Autor schließlich 1947 eine Stelle als Lecturer an der Columbia University erhält und die Bibliothek des Brander Matthews Museum betreut, lassen sich beide in New York nieder.
Bis zu seiner Pensionierung 1960 unterrichtet Pinthus Theatergeschichte an der Columbia University. Daneben publiziert er weiter und arbeitet vor allem an der Neuausgabe der »Menschheitsdämmerung«, die 1959 wieder bei Rowohlt erscheint und nochmals, aus völlig anderen Gründen, zum Erfolg wird. Für die nach dem Holocaust erschienene und um ausführliche bio-bibliografische Informationen ergänzte Ausgabe verändert Pinthus allerdings den Untertitel: Seine Anthologie ist nun »ein Dokument des Expressionismus«, das auch die Verfolgungs- und Exilgeschichte der Autorinnen und Autoren sowie die Zerstreuung ihrer Archive festhält. Nicht zuletzt diese Anthologie und das mit ihr verbundene Wissen um den Expressionismus bringen den Zeitzeugen und Chronisten Pinthus in den 50er-Jahren wieder in Kontakt mit deutschen Forscherinnen und Forschern, Zeitschriften, Verlagen – und Archiven.
Vor diesem Hintergrund, den mittlerweile in Marbach entstandenen Kontakten zu Archivmitarbeitern, anderen Forschern und auch Remigranten wie Eduard Berend und Ludwig Greve, entschließen sich Pinthus und seine Schwester 1967 trotz jahrelanger Vorbehalte gegen eine Remigration, nach Deutschland zurückzukehren.
Das DLA ermöglicht durch das unbürokratische Engagement von Bernhard Zeller den Transfer der Bibliothek und Materialsammlungen, zieht daraus aber auch eigenen Nutzen: Die Bibliothek wird teils im DLA, teils in der Wohnung von Pinthus untergebracht, steht fortan Forschern und Forscherinnen zur Verfügung und erweitert die Bestände um elementare Quellen, die in dieser Dichte in Deutschland nach dem Krieg nicht mehr vorhanden sind. 1969 verfügt Pinthus, dass die Bibliothek nach seinem Tod und dem der Schwester in das Eigentum des DLA übergehen sollten, ergänzt aber:
»Sollte ich aus politischen Gründen oder anderen zwingenden Gründen zu einer nochmaligen Auswanderung gezwungen sein, so werden notgedrungen die vorstehend bezeichneten Schenkungen […] hinfällig oder müßten neu formuliert werden.«
Pinthus, Erklärung vom 20.12.1969, DLA, Archiv
Diese Verfügung wird im Verlauf der kommenden Jahre ergänzt und abgeändert, der Absatz zur erneuten Auswanderung entfällt schließlich.
Der Expressionismus und seine Erforschung werden zu einem Anliegen, das Pinthus und das Deutsche Literaturarchiv zusammenführt. Nachdem der Stuttgarter Germanist Fritz Martini Pinthus in New York kennengelernt hatte, vermittelt er den Kontakt zum Direktor des DLA, Bernhard Zeller. Pinthus begeistert es, wie sich das DLA 1958 in einer ersten Ausstellung den nach 1933 verfolgten Autorinnen und Autoren annähert. 1960 eröffnet schließlich eine große Expressionismus-Ausstellung, für die auch Pinthus anreist. Das DLA hatte sich da bereits der Sammlung und Erforschung der Materialien zum Expressionismus verschrieben – und damit auch der Archivierung der mit ihren Besitzern über alle Welt zerstreuten Nachlässe. Pinthus hilft mit Auskünften und besucht in den folgenden Jahren in den Sommermonaten wiederholt wochenlang das Archiv, um die Fülle des in Marbach versammelten Materials für seine Forschungen zu nutzen.
»... eine lebendige historische Quelle von ganz unversiegbarer Fülle...«
Die Bibliothek und der Nachlass von Kurt Pinthus dokumentieren die Literatur des frühen 20. Jahrhunderts in ungewöhnlicher Dichte und mit vielen unikalen Quellen. Obwohl Pinthus nie offiziell Mitarbeiter im Deutschen Literaturarchiv wird, trägt er als Vermittler von Nachlässen und Sammlungen zum Expressionismus, sowie durch sein reiches Wissen und sein persönliches Engagement im Haus zur wachsenden Bedeutung des Archivs bei. Er stirbt am 11. Juli 1975.
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Ein »Erinnerungsstück« vom
Deutschen Literaturarchiv Marbach
www.dla-marbach.de
Autorinnen: Dr. Madeleine Brook, Dr. Caroline Jessen, Deutsches Literaturarchiv Marbach
Gestaltung und redaktionelle Bearbeitung: Dr. Ulrike Horstenkamp, AsKI e. V.
Technische Bearbeitung von Abbildungen, Audio- und Videodateien: Franz Fechner, AsKI e.V.
Das Deutsche Literaturarchiv Marbach
Das Deutsche Literaturarchiv Marbach (DLA) ist eine Literaturinstitution von internationalem Rang. Der Zugang steht allen offen, die ein Forschungsinteresse an Quellen deutscher Literatur- und Geistesgeschichte seit 1750 haben. Die Ursprünge des DLA reichen bis in das 19. Jahrhundert zurück. Handschriften, Bilder und Reliquien von Friedrich Schiller, Marbachs berühmtestem Sohn und Deutschlands populärstem Dichters im 19. Jahrhundert, stehen am Anfang der Sammeltätigkeit – zunächst in Schillers Geburtshaus, ab 1903 im Schillermuseum. Träger des Schillermuseums, das zugleich als Archiv dient, ist der 1895 gegründete Schwäbische Schillerverein, der 1947 in Deutsche Schillergesellschaft e.V. umbenannt wurde.
Die Nachkriegsjahre nach 1945 stellen einen wichtigen Wendepunkt auf der Marbacher Schillerhöhe dar. Im Schillerjahr 1955 gründeten Bernhard Zeller, der neue Museumsdirektor, und Wilhelm Hoffmann, der neue Präsident der Schillergesellschaft, das Deutsche Literaturarchiv. Bereits 1952 konnten die Bestände durch die Übergabe des Cotta-Archivs (Stiftung der Stuttgarter Zeitung) quantitativ und qualitativ beträchtlich erweitert werden. In diesen Jahren werden auch Mitarbeiter nach Marbach geholt, die durch die politischen und kriegerischen Ereignisse der 30er -und 40er-Jahre ins Exil getrieben worden waren, darunter Kurt Pinthus, Eduard Berend und Ludwig Greve. Sie prägen die Sammlungs- und Ausstellungsarbeiten des DLA in dieser frühen Phase der Neuausrichtung, ihre Werke und Sammlungen werden Teil des Sammlungsbestands. Der Anspruch, Zeugnisse verbrannter und verfemter deutschsprachiger Literatur zu sammeln, hat die Erwerbungs-, Ausstellungs- und Veranstaltungspolitik des DLA von Anfang an mitbestimmt, so gehört das DLA heute zu den wichtigsten Sammelstätten für Exilliteratur.
Aufgabe des DLA ist das Sammeln, Erschließen, Bewahren und Vermitteln deutschsprachiger Literatur von 1750 bis heute. Mit rund 1.400 Vor- und Nachlässen, Sammlungen von Schriftstellern und Gelehrten, Archiven literarischer Verlage und über 450.000 Bildzeugnissen gehört das Archiv inzwischen zu den führenden seiner Art. Die Bibliothek ist eine Spezial- und Forschungsbibliothek für neuere deutsche Literatur und umfasst über 1,4 Millionen Medieneinheiten. Unter den Beständen befinden sich wichtige Autoren und Autorinnen mit jüdischer Herkunft, u.a. Paul Celan, Franz Kafka, Berthold Auerbach, Hilde Domin, Else Lasker-Schüler, Kurt Tucholsky, Stefan Zweig, Arthur Schnitzler, Claire Goll, außerdem bedeutende Gelehrte, Philosophen und Germanisten, z.B. Norbert Elias, Siegfried Kracauer, Theodor W. Adorno, Hannah Arendt und Hans Blumenberg.
Das Schiller-Nationalmuseum (SNM), wie es seit 1922 heißt, wird durch weitere Bauten auf dem Campus ergänzt. Seit 1973 bewahrt das heute denkmalgeschützte brutalistische Archivgebäude der Architekten Jörg und Elisabeth Kiefner die Bestände der Bibliothek und des Archivs des DLA und macht sie der Forschung zugänglich. 2006 wird das von David Chipperfield Architects entworfene und mehrfach ausgezeichnete Literaturmuseum der Moderne (LiMo) eröffnet und erweitert seitdem die Ausstellungsfläche des Schiller-Nationalmuseums.
Gemeinsam mit anderen Institutionen und Universitäten führt das DLA internationale Forschungsprojekte durch. Das Collegienhaus dient als Wohn- und Begegnungsstätte für forschende Gäste aus In- und Ausland. In den beiden Museen sind Besucherinnen und Besucher eingeladen, in der Auseinandersetzung mit Manuskripten, Briefen, Fotos und Erinnerungsstücken in einen eigenen kreativen Prozess lesend und schreibend einzutreten. Digitale Vermittlung spielt dabei zunehmend eine wichtige Rolle. Dauerausstellungen zu Schiller und zur Literatur des 19. Jahrhunderts und zur Literatur von 1899 bis heute werden regelmäßig durch Wechselausstellung ergänzt. Ein umfangreiches Veranstaltungsprogramm ermöglicht ästhetische Erfahrungsprozesse und die Reflexion im Umgang mit Sprache und Weltliteratur.