»Hass ist eine schreckliche Sache, egal von wem und nach welcher Seite. Wir können nur versuchen zu informieren und die Menschen zueinander zu bringen statt auseinander.
Als Rolf Kralovitz 1994 für die neue Dauerausstellung der Gedenkstätte Buchenwald zur Geschichte des Konzentrationslagers interviewt wird, entschließt er sich, die Erinnerungen an seine Verfolgung in Leipzig und seine Haft in Buchenwald niederzuschreiben. Die Geschichte der Verfolgung und die Geschichte seiner Familie weiterzuerzählen wird zum wichtigsten Inhalt seines Lebens. Obwohl seit 20 Jahren erblindet, machen ihn seine Erfahrungen als Schauspieler, Hörspielautor und Fernsehproduzent, u. a. für »Momo« oder »Die Sendung mit der Maus«, zu einem Zeitzeugen, der das Schicksal der Juden im ›Dritten Reich‹ in einer einzigartigen und sehr persönlichen Art und Weise anschaulich werden lässt. Nach seinem Tod 2015 geht sein Nachlass an die Gedenkstätte Buchenwald, die derzeit eine Neuauflage von »Zehnnullneunzig in Buchenwald« vorbereitet. Mit über 100.000 Exemplaren ist es einer der bekanntesten und am weitesten verbreiteten Berichte eines KZ-Überlebenden in Deutschland.
Rolf Kralovitz wird am 15. Juni 1925 in Leipzig geboren, wo er im Waldstraßenviertel aufwächst. Nach dem Besuch der Grundschule muss er 1935, wie alle jüdischen Schüler, in die von Rabbiner EPHRAIM CARLEBACH gegründete und geleitete Schule überwechseln.
»Als ich nämlich mit zwei Jungen aus meinem Haus auf dem Hof spielte, war ich in irgendeine Schwierigkeit geraten und dann fragte ich die: »Habt ihr mich nicht verstanden? Ich hab doch einen deutschen Mund«. Da sagten die: »Nee, du hast keinen deutschen Mund, du bist ein Jude.« Und sie haben mich verhauen. Nicht, wie sich Jungen sonst hauen, sondern so richtig verhauen, weil ich eben ein Jude war. Da begriff ich zum ersten Mal: ich bin etwas anderes. Ich hab’ das meiner Mutter gar nicht erzählt, weil ich, obwohl ich noch ein Kind war, das Gefühl hatte, daß sie sich sehr aufregen würde. Und das war der Beginn der Verfolgungszeit, wie ich sie erlebt habe. [...] zu der Zeit, als sich das abspielte, [war ich] etwa neun oder zehn Jahre alt.«
Waldstraßenviertel in Leipzig
Das Waldstraßenviertel in Leipzig war bis in die 1930er Jahre hinein ein Zentrum jüdischen Lebens in Leipzig. Es liegt im westlichen Zentrum der Stadt. In den 1860er Jahren setzte nach Trockenlegung des Gebietes eine zunehmende Bebauung ein, ab 1900 wurden in diesem Viertel dann flächendeckend repräsentative Bürgerhäuser errichtet. 1933 war das Waldstraßenviertel Lebensmittelpunkt von ca. 2.500 Menschen jüdischer Herkunft oder jüdischen Glaubens. Die Nähe zu den Geschäftsstraßen in der Innenstadt bildete einen Standortvorteil. Die Ausbildung einer jüdischen kulturellen, sozialen und religiösen Infrastruktur erhöhte die Anziehungskraft des Stadtteils noch weiter. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden im und in der Nähe zum Waldstraßenviertel verschiedene Synagogen, Betstuben und Vereine. Nach 1933 versuchten viele jüdische Familien, abgesehen von den Menschen, die aufgrund der nationalsozialistischen Verfolgung emigrieren konnten, durch einen Zuzug ins Waldstraßenviertel dort einen Schutz und Solidarität in der jüdischen Gemeinschaft zu finden. Mit der Ghettoisierung in den »Judenhäusern« und den Deportationen ab Januar 1942 begann die systematische Vertreibung und Ermordung der Juden des Waldstraßenviertels. Nur wenige kehrten nach dem Krieg zurück.
Im Herbst 1945 wurde die erste Synagoge in Leipzig wieder eingeweiht. Insgesamt waren 220 überlebende Leipziger Juden zurückgekehrt, die die Gemeinde neu gründeten. Zu DDR-Zeiten hatte sie ein unauffälliges und zurückgezogenes Dasein. Erst nach 1990 wuchs sie wieder an und hat heute über 1.200 Mitglieder. Seitdem findet ebenfalls eine zunehmende Aufarbeitung der Geschichte der Leipziger Juden statt. Im Waldstraßenviertel, das weitgehend erhalten ist und in dem etwa 80 Prozent der Gebäude unter Denkmalschutz stehen, sind jedoch bis heute nur wenige Orte als ehemals jüdisch gekennzeichnet.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 muss er miterleben, wie die große Synagoge, in der er seine Bar Mizwa hatte, von SA-Männern und Zivilisten angezündet und zerstört wird. Viele seiner Lehrer werden verhaftet und in Konzentrationslager eingeliefert. Ab 1939 kann der Vierzehnjährige seine Schule nicht weiter besuchen, weil er als Totengräber auf dem städtischen Friedhof in Leipzig Zwangsarbeit zu leisten hat. Nach Beginn des Krieges weist die Gestapo ihn schließlich zusammen mit seiner Mutter und seiner Schwester in ein »Judenhaus« ein. Juden müssen inzwischen einen gelben Stern tragen, werden komplett aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Sie dürfen auch nicht mehr zu einem Friseur gehen. Ab Herbst 1941 kann Ralf Kralovitz als Gehilfe in der »Friseurstube Pulvermacher« arbeiten, die im jüdischen Gemeindehaus eingerichtet wird.
Am 11. Oktober 1943 werden Rolf Kralovitz, seine Mutter und seine Schwester von der Gestapo verhaftet.
»Eines Morgens im Frühherbst 1943 klopfte die Gestapo auch an unsere Tür: ›Mitkommen, sofort.‹ Keine Vorbereitungszeit wie sonst, kaum Zeit zum Packen. Ein letztes Mal gingen wir über die Nordstraße. Aus dem Haus Packhofstraße 1 kamen noch andere Verhaftete, Rumänen und Ungarn, die ähnliche Papiere hatten wie wir. Man brachte uns in das Haus der jüdischen Gemeinde in der Löhrstraße, in dieses Zimmer, das vorher Günther Pulvermacher als Friseurladen hatte. Hier befand sich jetzt das Büro der Gemeinde, der einzige Raum, der ihr noch geblieben war. Sonst war alles schon geschlossen und aufgelöst. Bis auf einige Mischehen und jüdische Mischlinge, die zu dieser Zeit noch nicht deportiert wurden, gab es keine Juden mehr in Leipzig. Das Zimmer füllte sich mit etwa 25 bis 30 Menschen. Ein Gestapo-Beamter stand hinter dem Schreibtisch. Er trug eine SS-Uniform und war nicht, wie sonst üblich, in Zivil. Meine Mutter erhielt von ihm ein Formular, auf dem stand: ›Staatsfeindliches Vermögen zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen‹. Sie sollte das unterschreiben. Meine Mutter sagte noch zu mir: ›Muß ich das, kann ich das, soll ich das unterschreiben? Die nehmen uns ja alles weg‹. Ich antwortete ihr: ›Jetzt ist ja doch schon alles egal‹. Kurz darauf kam eine Gestapo-Beamtin und schrie: ›Frauen und Kinder raus‹. Meine Mutter wollte sich von mir verabschieden, aber das Gestapo-Weib riß sie an den Haaren und stieß sie die neun Stufen zum Hof hinunter und auch meine Schwester und die anderen Frauen und Kinder.«
Rolf Kralovitz: Der gelbe Stern in Leipzig, Köln 1992, S. 24f.
Rolf Kralovitz sieht seine Mutter und seine Schwester an diesem Tag zum letzten Mal. Seinen Vater, ungarischer Herkunft, der verzweifelt versucht hatte, seine Familie nach Budapest zu holen, wird er ebenfalls nie mehr wieder sehen.
Rolf Kralovitz wird in das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar verschleppt.
»Vor uns lag ein Gebäude, durch dessen Durchfahrt wir jetzt geführt wurden. Es war das Tor von Buchenwald. Ein paar Sekunden lang standen wir unter diesem Tor. Der Anblick, der sich uns jetzt bot, war unbeschreiblich. Ein unübersehbarer Platz voll von Gestalten in blauweiß gestreiften Drillichanzügen, schnurgerade ausgerichtet. Riesige Scheinwerfer beleuchteten den Appellplatz wie eine Bühne im vollen Rampenlicht. Am Horizont hob sich der Morgenhimmel in hellblauer Farbe ab. Von den vielen Menschen auf dem weiten Platz war kein Laut zu hören. Eine Stimme in meiner Nähe meldete: ‚Zum Morgenappell angetreten’. [...] Ein Mann mit dunkelblauer Jacke und einer Binde am linken Arm nahm uns wieder durch das Tor hinaus und führte uns zu einer nahegelegenen Baracke. Dort mußten wir im Gang warten. Ich wurde als erster in das Büro der ›Politischen Abteilung‹ gerufen. Am Schreibtisch saß ein Mann in SS-Uniform. Er blätterte in den Akten und nahm dann meine Personalien auf. Nachdem die drei anderen auch bei ihm gewesen waren, führte man uns wieder an das Tor. Dort nahm uns ein anderer SS-Mann in Empfang. Es war inzwischen ein strahlender Tag geworden. Nun betraten wir das Innere des Lagers. Buchenwald, ein Wort, das ich bis jetzt nur in Verbindung mit dem Tod gehört hatte. Es war ein geheimnisvolles Wort. Jetzt gingen wir also die Lagerstraße des KZ Buchenwald hinunter. Sie sah gar nicht so geheimnisvoll aus. In gerader Richtung standen Holzbaracken und dahinter fingen einstöckige Steinhäuser an. Es ging ziemlich steil abwärts, der Weg war steinig und uneben. An einem der Gebäude übergab uns der SS-Mann einem Häftling. Dieser brachte uns in einen großen Raum, wo wir uns nackt ausziehen mußten. [...] Nun erschienen Häftlingsfriseure mit ihren Haarschneidemaschinen. Einer fing an, mich zu scheren; mittendrin wurde er kurz weggerufen. Ich faßte mich an den Kopf, vorn war er schon kahlgeschoren, hinten hatte ich noch mein langes Haar. Dieses Gefühl werde ich nie vergessen. Dann ging es unter die Brause, wir bekamen zu viert ein ganzes Handtuch. Nackt wie wir waren, mußten wir dann über den Hof. Im ersten Stock eines anderen Gebäudes gab es Hemd, Hose, eine Jacke, und am Ende des Tisches ein Paar sogenannte Holländer. Die Einkleidung hatte nur wenige Minuten gedauert. Ich versuchte, meine nackten Füße in die Holzkloben zu stecken, es schmerzte furchtbar. [...] In einem anderen Raum bekam jeder von uns eine alte braune Blechschüssel und einen Löffel. Doch halt, ich vergaß noch zu erwähnen, daß ich auf der Kleiderkammer auch eine Mütze bekommen hatte: rund wie ein Teller und blau-weiß getreift. Nun waren wir also Häftlingsrekruten.«
Rolf Kralovitz kommt in der jüdischen Baracke 22 unter. Er arbeitet in verschiedenen Baukommandos. Heimlich schneidet er seinen Mithäftlingen die Haare. Nach dem Bombenangriff der Alliierten auf das KZ Buchenwald im August 1944 muss Rolf Kralovitz in der Fuhrkolonne arbeiten, Leichen ins Krematorium fahren und sie dort stapeln. Mehrmals erkrankt er, weil er hungert, die Arbeit zu hart ist und die hygienischen Bedingungen miserabel sind.
Das Konzentrationslager Buchenwald
Im Juli 1937 lässt die SS auf dem Ettersberg bei Weimar den Wald roden und errichtet ein neues KZ. Mit dem Lager sollen politische Gegner bekämpft, Juden, Sinti und Roma verfolgt sowie »Gemeinschaftsfremde«, unter ihnen Homosexuelle, Wohnungslose, Zeugen Jehovas und Vorbestrafte, dauerhaft aus dem deutschen »Volkskörper« ausgeschlossen werden.
Nach Kriegsbeginn werden Menschen aus ganz Europa nach Buchenwald verschleppt. Im KZ auf dem Ettersberg und seinen 139 Außenlagern sind insgesamt fast 280.000 Menschen inhaftiert. Die SS zwingt sie zur Arbeit für die deutsche Rüstungsindustrie. Am Ende des Krieges ist Buchenwald das größte KZ im Deutschen Reich. Über 56.000 Menschen sterben an Folter, medizinischen Experimenten und Auszehrung. In einer eigens errichteten Tötungsanlage werden über 8.000 sowjetische Kriegsgefangene erschossen. Widerstandskämpfer bilden im Lager eine Untergrundorganisation, um das Wüten der SS nach besten Kräften einzudämmen. Gleichwohl wird das »Kleine Lager« zur Hölle von Buchenwald.
Noch kurz vor der Befreiung sterben Tausende der entkräfteten Häftlinge. Die Amerikaner erreichen im April 1945 Buchenwald und seine Außenlager. Dwight D. Eisenhower, der Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte, schreibt später in seinen Memoiren: »Nichts hat mich je so erschüttert wie dieser Anblick.«
»Tote schreiben nicht.«
Zu seinen engsten Familienangehörigen hat er in diesem Jahr den letzten Kontakt:
»Der letzte Brief meiner Mutter aus Ravensbrück war im Dezember 1944 geschrieben worden. In den darauffolgenden Monaten wartete ich sehnsüchtig auf eine weitere Nachricht von ihr. Nichts. Auch von meiner Schwester: Nichts. Auch von meinem Vater: Nichts. Vergeblich hoffte ich auf ein Lebenszeichen. Aber Tote schreiben nicht.«
Rolf Kralovitz: ZehnNullNeunzig in Buchenwald. Ein jüdischer Häftling erzählt, Köln 1996, S. 61.
Anfang April 1945 räumt die SS das Lager und schickt 28.000 Häftlinge auf Todesmärsche. Rolf Kralovitz schafft es, durch die Hilfe anderer Häftlinge, sich im Lager zu verstecken und erlebt dort am 11. April die Befreiung.
»Nichts hat mich je so erschüttert wie dieser Anblick.«
Von Buchenwald nach Leipzig zurückgekehrt muss er feststellen, dass niemand aus seiner Familie die nationalsozialistischen Lager überlebt hat. Nur eine Tante lebt inzwischen in den USA. Noch Im Jahr 1945 beginnt er in Leipzig eine Laufbahn als Kabarettist und Schauspieler. Er gehört u. a. zum ständigen Ensemble des »Palast-Theaters im Zoo«. Im Herbst 1946 geht Rolf Kralovitz nach München, wo er Mitglied des Kabaretts »Simpl« unter der Direktion von Theo Prosel wird. Dort, von Fritz Kortner entdeckt, spielt er seine erste Rolle in dem Film »Der Ruf«. Im März 1949 gelingt ihm endlich die Emigration in die USA, wo er zunächst in St. Louis, Missouri, dann in New York lebt. Die Mitglieder der jüdischen Gemeinde helfen ihm bei der Suche nach Unterkunft und Arbeit. Nach einigen typischen Einwandererjobs findet er eine Anstellung bei einer Börsenmaklerfirma in der Wall Street. In einer jüdischen Theatergruppe lernt er Brigitte Meckauer, die Tochter des aus Deutschland exilierten Schriftstellers Walter Meckauer kennen. Die beiden heiraten im Sommer 1952.
Als Rolf Kralovitz 1953 zusammen mit seiner Frau seine Schwiegereltern in München besucht, kehren die beiden nicht mehr in die USA zurück. Er arbeitet wieder als freischaffender Schauspieler bei Theater und Film, z. B. in »Hanussen« (1955), »Der Arzt von Stalingrad« (1957) oder »… und nichts als die Wahrheit« (1958). Zusätzlich absolviert er ein Studium am Filminstitut in München. Schließlich übernimmt Rolf Kralovitz Anfang 1960 die Position eines Produktionsleiters beim Fernsehen des Westdeutschen Rundfunks. Die bekanntesten Produktionen, für die er verantwortlich ist, sind die Kinder-Fernsehfilmreihe »Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt«, die 1972 das erste Mal ausgestrahlt wird, »Die Sendung mit der Maus« (hieß anfangs »Lach- und Sachgeschichten für Fernsehanfänger«“, läuft seit 1971) sowie der Fernsehfilm »Momo«.
»Die Geschichte der Verfolgung und die Geschichte seiner Familie weiterzuerzählen wird zum wichtigsten Inhalt seines Lebens.«
Rolf Kralovitz erblindet 1976 und wird frühpensioniert.
»Als ich dann blind war, wussten wir zuerst nicht, was wir jetzt machen sollen. Aber dann haben meine Frau und ich uns langsam daran gewöhnt und haben angefangen zu schreiben. Wir haben sehr viel gemacht, Hörspiele und Features.«
aus: Geteilte Erinnerungen. Jugend in Leipzig unterm Hakenkreuz, Schüler fragen – Zeitzeugen berichten, hrsg. vom Schulmuseum – Werkstatt für Schulgeschichte Leipzig, Leipzig 2006, S. 165.
Darüber hinaus setzen sich Rolf und Brigitte Kralovitz von nun an dafür ein, jüdische Geschichte in Deutschland sichtbar und erfahrbar zu machen. Sie schreiben mehrere Bücher und geben vor allem Jugendlichen die Möglichkeit, sich mit den Schicksalen jüdischer Menschen in Deutschland auseinanderzusetzen. Dabei agieren sie nicht mit erhobenem Zeigefinger, um zu belehren, sondern sie möchten darstellen, dass es um komplexe Sachverhalte geht, und es in der Verantwortung eines jeden selbst liegt, dafür ein eigenes Bewusstsein zu entwickeln. Finanziell unterstützen sie sowohl Schülerprojekte als auch wissenschaftliche Forschungsarbeiten. Die meisten ihrer eigenen Bücher verschenken sie, weil sie wollen, dass Bildung über den Nationalsozialismus nicht an ökonomischen Hindernissen scheitert.
Erst nach dem Zusammenbruch der DDR hat Ralf Kralovitz die Möglichkeit, in Leipzig mit der Erinnerungsarbeit zur Geschichte der Leipziger Juden zu beginnen: das betrifft sowohl die eigene Familiengeschichte als auch die Sichtbarmachung jüdischer Geschichte. So lässt das Ehepaar Anfang der 1990er-Jahre an der Stelle des Grabes von Rolf Kralovitz‘ Großeltern einen neuen Grabstein aufstellen, der auch an die Ermordung seiner Mutter, seiner Schwester, seines Vaters und seiner Tante Hedwig Burgheim erinnert. Ebenso initiiert er, dass vor dem Haus in der Fregestraße 22 »Stolpersteine« in Gedenken an seine Familie verlegt werden.
Die Jüdische Gemeinde in Leipzig
Als weltoffene Handelsstadt zog Leipzig über Jahrhunderte jüdische Kaufleute aus Ost und West an. In jedem Jahr kamen sie mehrmals zu den Messen, ein Niederlassungsrecht wurde ihnen jedoch lange Zeit nicht gewährt. Trotzdem entstand 1847 die »Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig«.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhielten Juden in Sachsen immer mehr Bürgerrechte. Aufgrund der Einwanderung von Juden aus Osteuropa wurde die jüdische Gemeinde in Leipzig bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend größer. Juden wurden mehr und mehr in das gesellschaftliche Leben der Stadt integriert. Um 1900 hatte Leipzig etwa 6.000 jüdische Einwohner, um 1925 ca. 12.500. Es entstanden mannigfaltige rituelle und kulturelle Einrichtungen, darunter 13 Synagogen und vier Bethäuser. Jedoch mussten sich Juden mit dem erstarkenden Antisemitismus auseinandersetzen.
Nach 1933 wurden sie durch die Nationalsozialisten zunehmend ausgegrenzt, später ghettoisiert. Ihr Eigentum wurde zerstört oder enteignet. 1939 lebten noch ca. 4.000 Juden in Leipzig. Etwa 7.500 hatten es geschafft, ins Exil zu gehen. Die 4.000 gebliebenen Juden wurden bis 1943 deportiert, abgesehen von den wenigen, die mit nicht-jüdischen Partnern verheiratet waren. Mit der letzten Deportation 1943 war die jüdische Gemeinde Leipzig, 1933 die sechstgrößte in Deutschland, vollständig zerstört.
Außerdem beteiligt er sich an der Gründung der Ephraim-Carlebach-Stiftung, die sich zum Ziel gesetzt hat, an jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig zu erinnern und diese wachzuhalten. Ihre Mitglieder schenken ihm zum 80. Geburtstag einen Lindenbaum, der im Leipziger Waldstraßenviertel gepflanzt wird.
Für die Bildungsarbeit in der Gedenkstätte stellt er seine Bücher kostenlos zur Verfügung. Rolf Kralovitz stirbt am 21. Juni 2015 in Köln. Sein Erbe vermacht er der Gedenkstätte Buchenwald, die derzeit eine Neuauflage von »Zehnnullneunzig in Buchenwald« vorbereitet. Mit über 100.000 Exemplaren ist es einer der bekanntesten und am weitesten verbreiteten Berichte eines KZ-Überlebenden in Deutschland.
Mit dem Teilen dieses Porträts in sozialen Netzwerken unterstützen Sie unser Anliegen, an jüdische Persönlichkeiten, die unsere Gesellschaft seit über 1.700 Jahren mitgestalten, aktiv zu erinnern.
Ein »Erinnerungsstück« der
Gedenkstätte Buchenwald
www.buchenwald.de
Autor: Ricola-Gunnar Lüttgenau, Strategische Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit
Gestaltung und redaktionelle Bearbeitung: Dr. Ulrike Horstenkamp, AsKI e.V.
Techn. Bearbeitung von Abbildungen, Audio- und Videodateien: Franz Fechner, AsKI e.V.
Gedenkstätte Buchenwald
Das KZ Buchenwald (1937–1945) ist heute ein Synonym für die nationalsozialistischen Verbrechen. Bis 1950 nutzten die Sowjets das Gelände für ein Speziallager, nach 1958 baute die DDR die »Nationale Mahn- und Gedenkstätte« mit dem Fokus auf die Geschichte der deutschen kommunistischen Häftlinge zur größten deutschen KZ-Gedenkstätte aus. Nach 1990 wurde sie neu konzipiert und für die Erinnerung an das Schicksal weiterer Opfergruppen geöffnet. Neue Ausstellungen ermöglichen den Blick auf die Zusammenhänge der Verbrechen. Die Geschichte von Buchenwald und Weimar bietet heute für die historisch-politische Bildungsarbeit einen einmaligen historischen Resonanzboden. Wie nirgendwo sonst ergeben sich Zugänge zur Vergangenheit, die sowohl die Möglichkeiten als auch die Grenzen menschlichen Handelns erfahrbar werden lassen.