Arthur
Goldschmidt
1883–1953

Herr der
Almanache

»

... woraus sich zuletzt eine so helle Begeisterung für den literarischen deutschen Almanach entwickelte, daß ich diesem Sammelgebiet unter fast völliger Vernachlässigung früherer Liebhabereien meinen ausschließlichen Anteil und meine ganze Liebe schenkte.

Arthur Goldschmidt, Vorwort in »Goethe im Almanach«

Der Leipziger Unternehmer Arthur Goldschmidt besaß eine herausragende, 2.000 Bände umfassende Sammlung von Almanachen aus dem 17. bis 19. Jahrhundert, die sich heute im Besitz der Klassik Stiftung Weimar befindet. 1936 hatte er sie zu einem Schleuderpreis an das Goethe- und Schiller-Archiv verkauft, nachdem er durch Diskriminierung und Enteignung im Nationalsozialismus an den Rand der Existenzvernichtung getrieben worden war. Goldschmidt selbst starb verarmt in seinem Exil in Bolivien. 2005 leitete die Bibliothek die Restitution der als NS-Raubgut bewerteten Sammlung ein und vereinbarte mit den Erben Goldschmidts den Ankauf der Almanache. Bisher kaum bekannt ist Arthur Goldschmidts bibliographische Arbeit. Er verzeichnete die vielfältigen Inhalte der Almanache akribisch in einer mehr als 50.000 Nachweise umfassenden Almanach-Kartothek.

Zu Hause in der
Stadt des Handels und der Bücher

Arthur Goldschmidt wird am 17. Juni 1883 in Leipzig geboren. Er wächst als ältester Sohn des Unternehmers Adolf Goldschmidt (1855–1930) und dessen Ehefrau Sophia, geb. Schachian (1861–1949) auf. Das Paar hat noch vier weitere Kinder, die Töchter Claire, Else und Hilde und Sohn Fritz. Das Elternhaus ist Treffpunkt von Künstlern und Intellektuellen. Es gibt ein Herrenzimmer und einen Musiksalon, wo Diskussionsabende, Lesungen und Hauskonzerte veranstaltet werden.

Im Alter von 70 Jahren übergibt der Vater Adolf Goldschmidt die Geschäftsführung des Futtermittelunternehmens an Arthur Goldschmidt, der inzwischen mit seiner Ehefrau Hertha, geb. Aren (1895–1953) zwei Kinder hat: Hans Peter (1918–1992) und Hannelore (1919-1990).

»Obwohl es ihm wider­strebte, mußte er in das Geschäft eintreten, dessen Gebäude hinter der Börse in der Packhofstraße 11–13 lagen. Lieber hätte er studiert und einen künstlerischen Beruf ausgeübt.«

Hannelore Goldschmidt

Leben in Leipzig

Einen wesentlichen Teil seines Lebens verbringt Arthur Goldschmidt in der Messestadt Leipzig. Mehrfach wechselt er seinen Wohnsitz, bis er schließlich am Sehnsuchtsort der Buchliebhaber, im »Graphischen Viertel«, Quartier bezieht.

Stadtplan Leipzig (Ausschnitt), Frawin-Verlag, 1938
Stadtplan Leipzig (Ausschnitt), Frawin-Verlag, 1938

1 – Packhofstraße
In der Packhofstraße 1–2, unweit des Leipziger Haupt­bahn­hofs, befindet sich das Geburtshaus von Arthur Gold­schmidt. In dieser Straße residiert auch in wechselnden Hausnummern die 1880 gegründete Firma: »Adolf Gold­schmidt. Getreide, Mühlenfabrikate und Futterartikel«.

2 – Auenstraße
Im Jahr 1886 erfolgt der Umzug der Familie in die Auen­straße 5, heute Hinrichsenstraße. Das 1864 gebaute Mietshaus steht heute noch, es hat den Zweiten Weltkrieg scheinbar unbeschadet überstanden. Das sogenannte Waldstraßenviertel, in dem sich die Auenstraße befindet, ist stark von den jüdischen Bürgern Leipzigs geprägt, so sind 20% der dortigen Bevölkerung jüdischer Herkunft. Es gibt drei Synagogen, ein jüdisches Altenheim und ein Krankenhaus. Repräsentative Gründer­zeit­häuser reihen sich aneinander. Hier verbringt Arthur Goldschmidt seine Kindheit und seine Jugend.

3 – Fockestraße 
Mit einer eigenen Wohnanschrift taucht Arthur Gold­schmidt erstmals 1917 im Leipziger Adressbuch auf. Die Fockestraße befindet sich in der Leipziger Südvorstadt, wie in der Auenstraße auch ist die Architektur gründer­zeitlich geprägt. Die Entfernung zur väterlichen Firma in der Packhofstraße beträgt gute fünf Kilometer. Wie er sie täglich zurücklegt, wissen wir nicht. Aber auf dem Weg durch das Musikviertel passiert er die Universitäts­bibliothek, das architektonisch beeindruckende Reichs­gerichts­gebäude und die Thomaskirche. Das Leipziger Goethedenkmal liegt ebenso auf der Strecke wie Auer­bachs Keller. Bis 1928, also zehn Jahre lang, ist Arthur Goldschmidt unter dieser Adresse gemeldet. Hier wird 1919 Tochter Hannelore geboren. Er ist nun Prokurist im väterlichen Betrieb.

4 – Kronprinzstraße
Von 1928 bis 1931 bewohnt Arthur Goldschmidt ein Appartement in der Kronprinzenstraße 1c, heute Kurt-Eisner-Straße. Zwischen dieser und seiner vorherigen Wohnung liegen kaum 350 Meter Fußweg. Auch dieses 1913 gebaute Haus überstand den Zweiten Weltkrieg.

5 – Floßplatz
In der nächsten Wohnung am Floßplatz 31 hält es ihn ebenfalls nicht lange. Nur von 1932 bis 1933 wohnt er in diesem Gebäude, im Adressbuch wird er jetzt als Großkaufmann bezeichnet.

6 – Kreuzstraße
Seine letzte Wohnstätte vor der Flucht bezieht Arthur Goldschmidt 1934. Sind die vorangegangenen Adressen sicherlich auch durchaus angemessen und von ihrer Lage her mehr als reizvoll, so dürfte es doch die Kreuzstraße 4 gewesen sein, in der er sich heimisch fühlen konnte. Sie liegt inmitten des »Graphischen Viertels«, eben jenes Sehnsuchtsortes der Buchliebhaber überhaupt.

Für das Jahr 1900 waren für dieses Viertel mehr als 2.000 Unternehmen des Buchgewerbes im Adressbuch aufgeführt, mehr als 800 Verlage und Buchhandlungen, jeweils fast 200 Druckereien und Buchbinder.

Was empfindet ein Bücherliebhaber und Sammler, wenn er morgens durch seine Haustür die Straße betritt, und dabei an den gut 50 Antiquariaten im Viertel vorbeischlendern kann? Seine eigene Bibliothek umfasst immerhin 40.000 Bände. Aber was ist das schon angesichts dieser Fülle? Und es sind nicht nur die Antiquariate, die für einen schier unerschöpflichen Nachschub an Büchern sorgen. Die Verlagsanstalten von Reclam und Brockhaus befinden sich in direkter Nachbarschaft.

Und doch erlebt Arthur Goldschmidt hier auch seine sicherlich schmerzlichsten Stunden. Den Verlust der väterlichen Firma durch Enteignung. Den Verlust seiner geliebten Almanachsammlung, ja, seiner wohl gesamten Bibliothek. Die Almanache stehen heute im unterirdischen Büchermagazin der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, sie bilden den Kern der dortigen Almanachsammlung. Was mit der restlichen Bibliothek geschah, ist nicht bekannt. Die schätzungsweise 38.000 Bücher wurden offenbar zerstreut und befinden sich möglicherweise heute in anderen Sammlungen. 2012 erwarb die HAAB auf dem Auktionsmarkt einen Band aus Goldschmidts Bibliothek. Bislang sind vier verschiedene Exlibris bekannt.

Sammelgebiet: Almanache

In jahrzehntelanger Sammlertätigkeit trägt Arthur Goldschmidt eine Sammlung von 2.000 Almanachen des 18. und 19. Jahrhunderts zusammen. Er widmet sich damit einem Sammel­gebiet, welches von Forschern und bibliophilen Sammlern gleichermaßen unterschätzt wird, wohl aufgrund des unterhaltenden Charakters der Almanache und ihres Bezuges zum Alltag ihrer Leser. Manche Exemplare sind ausgesprochen selten, anderen fehlen die attraktiven Kupferstiche und das Vervollständigen einzelner Reihen erfordert viel Geduld und Sammlerglück. Arthur Goldschmidt gelingt es, eine der umfangreichsten Almanachsammlungen der Zeit aufzubauen. Er investiert nach eigenen Angaben rund 50.000 Reichsmark.

 

Was sind Almanache?

›Almanach‹ ist ein Sammelbegriff für eine periodisch erscheinende Schrift (meist einmal im Jahr), die kalendarische, astronomische, genealogische oder medizinische Texte und Daten ausgerichtet auf das jeweilige Jahr enthält und damit vorwiegend der Information dient. Sie wurden in kleinen Formaten produziert, sodass man sie leicht mit sich führen konnte (»Taschenbücher«). Ab dem 18. Jahrhundert erfüllen Almanache zunehmend auch Unterhaltungsbedürfnisse. Sie stehen für eine neue Lesekultur. Neben literarischen Texten enthalten sie bildende und unterhaltsame Beiträge zu Themen aus Musik, Kunst, Theater, Tanz, Politik, Gesellschaft, Mode, Reisen, Botanik, Jagd, Militärwesen u. a. m. Viele Exemplare sind hochwertig ausgestattet mit Kupferstichen und attraktiven Einbänden. Die oft über Jahrzehnte hinweg fortgeführten Reihen sind wichtige Quellen für die sozial- und kulturhistorisch orientierte Forschung und verschaffen darüber hinaus einen Überblick über die Entwicklung der Druckgrafik in der Buchillustration.

Zahlreiche Erstdrucke von Werken Goethes, Schillers, Clemens Brentanos, Achim von Arnims oder später auch Stifters oder Storms sind in Almanachen erschienen. Wie sehr Goethe diese schätzte, schreibt er in einem Brief an seinen Freund Schultz vom 10. Januar 1829:

»Ich weiß nicht, was ohne die Schillerschen Anregungen aus mir geworden wäre. - Hätt‘ es ihm nicht an Manuscript für die Horen und Musenalmanache gefehlt, ich hätte die Unterhaltungen der Ausgewanderten nicht geschrieben, den Cellini nicht übersetzt, ich hätte die sämtlichen Balladen und Lieder, wie sie die Musenalmache geben, nicht verfaßt, die Elegien wären, wenigstens damals, nicht gedruckt worden, die Xenien hätten nicht gesummt, und im Allgemeinen wie im Besonderen wäre manches anders geblieben.«

Die Kartothek

Goldschmidts Ambitionen richten sich nicht nur auf den kontinuierlichen Ausbau der Almanachsammlung, sondern auch auf die akribische Erfassung ihrer vielgestaltigen Inhalte. In Zusammenarbeit mit einem angestellten Bibliothekar baut er eine einzigartige »Kartothek zum deutschen Almanach literarischen Inhalts« auf. Diese erschließt sowohl Goldschmidts eigene Sammlung von 2.000 Bänden als auch zahlreiche weitere Almanache, welche über öffentliche oder private Sammlungen erreichbar waren. Der Schwerpunkt liegt auf literarischen sowie Kunst und Musik betreffenden Inhalten. Fein säuberlich und farblich markiert sind auf schätzungsweise 50.000 Karteikarten einzelne Beiträge mit Hinweisen und Relationen zu Beiträgen auf anderen Karten verzeichnet. Dabei unterscheiden sich beispielsweise Gedichte auf weißen Karteikarten von Romanen, Reisebeschreibungen und Erzählungen auf blauen und Theaterstücken auf roten Kärtchen.

Zur Kartothek gehören eine Personenkartei und ein vier Leitz-Ordner umfassendes »Alphabetisches Verzeichnis der Almanache« von 1934. Es umfasst rund 1.200 teils handschriftliche, teils mit Schreibmaschine verfasste Seiten. Jede Seite widmet sich einem Jahrgang eines Almanachs und führt neben den Grunddaten wie Titel, Erscheinungsjahr und Herausgeber die jeweilige Einbandart, eine gekürzte Fassung des Inhaltsverzeichnisses und Querverweise zu Katalogen auf, in denen der Almanach genannt wird. Zu jeder Ausgabe werden außerdem Angaben zu Illustrationen und Beiträgen zum Thema Musik festgehalten, welche von der Vorarbeit für die geplanten Publikationen Arthur Goldschmidts zeugen.

Mit der damals größten und möglicherweise einzigen Inhaltsbibliographie deutschsprachiger Almanache will Arthur Goldschmidt einen Beitrag zur Goethe-Rezeption und zur Erforschung der Lesekultur um 1800 leisten. 1932 erscheint seine Publikation »Goethe im Almanach«, die noch heute als Referenzwerk geschätzt wird. Manuskripte zu den Themen »Deutsche Schriftsteller im Almanach«, »Deutsche Kunst im Almanach« und »Musik im Almanach« sind fertiggestellt, dürfen aber nicht mehr publiziert werden. Sie gelten heute als verschollen.

Goethe im Almanach

»Es ist eine merkwürdige Tatsache, dass bei dem ins Riesengroße gewachsenen Schrifttum über Goethe noch niemand auf den Gedanken gekommen ist, ihn in Verbindung mit dem Almanach, sei es bibliographisch, sei es biographisch, zu erfassen.«
Arthur Goldschmidt, »Goethe im Almanach«

Das Werk »Goethe im Almanach« erscheint 1932 im Hermann Eichblatt Verlag Leipzig anlässlich der 100. Wiederkehr von Goethes Todesjahr, der am 22. März 1832 in Weimar verstarb.

Die genaue Auflagenhöhe ist nicht bekannt, wohl aber der Preis: 16 Reichsmark für die gebundene Ausgabe. Umgerechnet auf die heutige Kaufkraft ergäbe sich ein Preis von ca. 64 Euro, wobei es im Antiquariatsbuchhandel deutlich günstiger zu erwerben ist. Je nach Erhaltungszustand bewegen sich hier die Preise zwischen 10 und 135 Euro. Auch in nahezu jeder deutschen Universitätsbibliothek ist der Band vorhanden. Über die Grenzen hinaus, von Israel bis Kanada, findet er sich im Bestand wissenschaftlicher Einrichtungen.

Der Band war also seinerzeit nicht gerade günstig, für ein bibliographisches Überblickswerk aber war der Preis angemessen. Höhere Kosten verursachten  die zahlreichen fotografischen Abbildungen. In einer Rezension wurde die »gute Ausstattung« deshalb wohl auch gelobt.

Doppelmotiv, links Minerva, rechts Merkur
Doppelmotiv, links Minerva, rechts Merkur / © Klassik Stiftung Weimar

Unter der Einleitung befindet sich eine kleine Druckgrafik. Sie zeigt auf der linken Seite Minerva, die griechische Göttin für Kunst und Wissenschaft. Rechts wird Merkur abgebildet, der »Götterbote« und Gott der Händler. Dieses Doppelmotiv verwendete Goldschmidt z. B. auch in seinem persönlichen Briefpapier und bei der Kennzeichnung seines Buchbesitzes.

Zur buchgestalterischen Qualität beigetragen hat sicherlich auch die Tatsache, dass kein geringerer als Hugo Steiner-Prag mit dem Entwurf des Einbandes beauftragt wurde. Der Professor an der angesehenen Leipziger Akademie für Graphische Künste und Buchgewerbe galt in der Zeit als einer der Buchgestalter und Illustratoren schlechthin. 1933 emigrierte Steiner-Prag aufgrund seiner jüdischen Herkunft – er war bereits 1905 zum Katholizismus konvertiert – zunächst in die Tschechoslowakei. Von hier aus führte ihn sein Weg später über Schweden, Russland und Japan in die USA. Dass er von Arthur Goldschmidt beauftragt wurde, lag vielleicht auch daran, dass dessen Schwester Hilde eine Schülerin von Hugo Steiner-Prag war. Eventuelle Kontakte mögen aus dieser Zeit herrühren.

Warum der Eichblatt Verlag mit der Erstellung beauftragt wurde, lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen. Der Leipziger Verlag befand sich – anders als der Name annehmen lässt – schon seit Ende 1920 im Besitz von Max Adolf Leopold Zedler. Dieser hatte ihn von Hermann Eichblatt übernommen und den Namen bis 1966 beibehalten. Bereits seit Mitte der 20er-Jahre veröffentlicht im Eichblatt-Verlag auch Agnes Miegel, Adolf Bartels seit Mitte der 30er-Jahre. Beide gelten als frühe und fanatische Anhänger des Nationalsozialismus. So unterschrieb Miegel 1933 als eine von 88 Schriftstellerinnen und Schriftstellern 1933 das »Gelöbnis treuester Gefolgschaft für Adolf Hitler«. Bartels war ein völkisch-antisemitischer Schriftsteller und Kulturpolitiker. Seine Positionen waren ab 1933 prägend für die Kulturpolitik im Nationalsozialismus.

»Mein Wunsch ist, daß es dem Leser in seiner Gesamt­wirkung so vor Augen stehen möge, wie es mir vorschwebte und mich bei meiner Arbeit begeisterte.«

Arthur Goldschmidt, Vorwort in »Goethe im Almanach«

Der erzwungene Verkauf

Als die Situation der Familie zunehmend existenzbedrohend wird, sieht Goldschmidt sich gezwungen, die wertvolle Almanachsammlung zu verkaufen. Verzweifelt sucht er einen Ort, an dem diese erhalten bleiben kann. Die Verhandlungen mit verschiedenen Kultur­institutionen scheitern. Am 10. März 1936 akzeptiert er schließlich ein Angebot des Weimarer Goethe- und Schiller-Archivs, die Sammlung zu einem Schleuderpreis von 2.000 Reichsmark, weit unter Wert, zu übernehmen. Der erhaltene Schriftwechsel zwischen Arthur Goldschmidt und dem Goethe- und Schiller-Archiv offenbart, dass die Leitung der Weimarer Kulturinstitution von Goldschmidts Notlage bewusst profitierte. 

»Herr Goldschmidt hat mehrere Versuche gemacht, die Sammlung an öffentliche Institute zu bringen, ist jedoch nicht nur an dem gedachten Preis gescheitert, sondern auch daran, daß eine so hohe Summe nur mit besonderen Zuwendungen des Reichs gezahlt werden könnte, diese aber nicht zu erwarten waren, vielleicht deshalb, weil Herr Goldschmidt natürlich Jude ist. [...] Unter diesen Umständen ist die Erwerbung eine ausserordentlich günstige Angelegenheit und eine sehr erwünschte Ergänzung der geringen Almanach-Bestände des Archivs.«
Hans Wahl, Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs, in einem Bericht an den Verwaltungsausschuss, 18.03.1936

Bereits am 2. April 1936 wird die Almanachsammlung in Leipzig übergeben, am darauffolgenden Tag in sieben Kisten verpackt und durch eine Speditionsfirma abtransportiert. Die Kartothek wird von vier Mann mit großer Mühe weggetragen.

1954 gelangen Almanachbestände aus dem Goethe- und Schiller-Archiv in die Thüringische Landesbibliothek, eine Vorgängerinstitution der heutigen Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Darunter befindet sich auch die Sammlung Goldschmidt, deren Vorbesitzer zunächst unbekannt bleibt. Erst 2005 führen das Exlibris in den Bänden und Nachforschungen in den Archivakten zur Aufdeckung der Erwerbungsumstände im Jahr 1936.

Ein Fall von NS-Raubgut


Die Erwerbung der Almanach-Sammlung ist als NS-verfolgungsbedingter Entzug zu werten, sie wird daher 2012 an die Erben Arthur Goldschmidts restituiert und anschließend durch die Herzogin Anna Amalia Bibliothek angekauft. Inzwischen befindet sie sich rechtmäßig im Besitz der Klassik Stiftung Weimar. Es handelt sich um einen der größten Restitutionsfälle von NS-Raubgut im deutschen Bibliothekswesen.

Die Geschichte der Almanachsammlung Goldschmidt zeigt, dass der in der NS-Zeit systematisch und organisiert durchgeführte Raub von Kulturgütern nicht nur einen materiellen Verlust für die Geschädigten bedeutete, der ideelle Wert war oft um ein Vielfaches höher. Die leidenschaftliche Beschäftigung mit der Sammlung war Arthur Goldschmidt über Jahrzehnte Quelle der Inspiration und Lebensfreude. Die bibliographische Arbeit bot ihm eine schöpferische Perspektive, das gewonnene Wissen an die Gesellschaft zu vermitteln und ein wertvolles Arbeitsinstrument für die Almanachforschung aufzubauen. Zu all dem hatte er nach dem erzwungenen Verkauf keinen Zugang mehr.

Emigration
nach Bolivien

Diskriminierung und Rassismus des nationalsozialistischen Systems führen zur Verarmung und zur Flucht von Arthur Goldschmidts Familie ins bolivianische Exil. Sein Sohn Peter ist kurzzeitig im Konzentrationslager Buchenwald inhaftiert, er flüchtet als erstes Familien­mitglied aus Deutschland nach Bolivien und holt Schwester und Eltern nach. Die in Deutschland verbliebenen Angehörigen von Arthur Goldschmidts Frau Hertha werden ermordet. Arthur Gold­schmidts Schwester Hilde übersiedelt 1936 von Deutschland nach Österreich und emigriert 1939 nach England, wo bereits ihr Bruder Fritz lebt.

Die Familie Goldschmidt entkommt dem Holocaust und übersteht die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Das Exil in Südamerika verkraftet die ältere Generation nur schwer. Arthur Goldschmidt stirbt 1951 im Alter von 67 Jahren, seine Frau Hertha folgt ihm zwei Jahre später im Alter von 58 Jahren.

Ein Brief aus Bolivien

Der 65-jährige Arthur Goldschmidt schildert in einem Brief vom 8. August 1949 aus Cochabamba / Bolivien an seine Schwester Hilde die schwierige finanzielle Situation, in der er sich befindet, und seine Versuche, trotz Taubheit und Alter Arbeit zu finden.

»Immerzu grübele ich darüber nach, ob mir nicht doch eine Möglichkeit zu einem Verdienst oder einer Arbeit übrigbleibt, was natürlich bei dem auch hiesigen schlechten Geschäft u. den Beschwerungen doppelt aussichtslos ist. Ab u. zu finden sich ja Kleinigkeiten, aber das sind immer Zufallssachen, u. nichts Dauerndes.«

Hilde Goldschmidt, 1930 – Eine dunkle Vorahnung?

Die jüngste Schwester von Arthur Goldschmidt, Hilde Goldschmidt, kehrte 1950 aus ihrem englischen Exil zurück ins österreichische Kitzbühel. Dort nahm sie ihre künstlerische Karriere als Malerin und Grafikerin wieder auf. In den 1920er-Jahren hatte sie bei dem Expressionisten Oskar Kokoschka an der Akademie für Bildende Künste in Dresden studiert. Ende der 1920er-Jahre schuf sie eine kleine Serie von Holzschnitten unter dem Titel »Probstdeuben«.

Die Grafiken zeigen Bahnhofszenen mit herein- und fortfahrenden Zügen und wartenden Passagieren an den Gleisen. Probstdeuben ist jener Ort, an dem die Eltern von Arthur und Hilde Goldschmidt, Adolf und Sophie Goldschmidt, ihr Landhaus und ihren Alterssitz hatten. Die Bildmotive scheinen während dortiger Besuche entstanden zu sein. Die Grafiken fangen gekonnt den ambivalenten, nervösen Zustand zwischen Ankunft und Abschied, Beschleunigung und Stillstand, Ort und Nicht-Ort, Halt und Haltlosigkeit ein. Angesichts der Geschichte des 20. Jahrhunderts wirken die Holzschnitte wie eine dunkle Vorahnung auf die grausamen Veränderungen, die auf die jüdische Bevölkerung in Deutschland wenige Jahre später zukommen sollten.

Hilde Goldschmidt, Das Bahnwärterhaus - Probstdeuben 1930, Holzschnitt, 25 x 32,2 cm, Auflage 3, Grafik aus der Serie »Probstdeuben«
Hilde Goldschmidt, Das Bahnwärterhaus - Probstdeuben 1930, Holzschnitt, 25 x 32,2 cm, Auflage 3, Grafik aus der Serie »Probstdeuben« / © Museum Kitzbühel

Geteilte Lebenswelten

Trotz der leidvollen Erfahrung, die ihnen in Deutschland widerfahren ist, kehrt die jüngere Generation aus der Emigration zurück. Die Geschwister Hans-Peter und Hannelore lassen sich mit ihren Familien in Berlin nieder.

Hannelore Goldschmidt hatte in Bolivien den KPD-Politiker Paul Baender geheiratet. In der neugegründeten Deutschen Demokratischen Republik schlägt das Ehepaar eine politische Laufbahn ein. Hannelore Baender wird Politik- und Sportfunktionärin in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, zudem ist sie Mitglied der Volkskammer.

Hannelore Baender (links im Bild) während der 13. Sitzung der DDR-Volkskammer am 31.10.1951 im Gespräch mit Margot Feist (spätere Honecker)
Hannelore Baender (links im Bild) während der 13. Sitzung der DDR-Volkskammer am 31.10.1951 im Gespräch mit Margot Feist (spätere Honecker) / © Bundesarchiv, Foto: Horst Sturm

Ihr Mann arbeitet als Staatssekretär im Ministerium für Handel und Versorgung. Im Zuge einer stalinistischen, antijüdischen »Säuberungswelle« im Jahr 1952 wird sie kurzzeitig inhaftiert. Ihr Ehemann wird zu 12 Jahren Gefängnis verurteilt, später, nach vierjähriger Haftzeit, begnadigt. Hannelore Baender stirbt 1990, im Jahr der deutschen Wiedervereinigung.

Im Gegensatz zu seiner Schwester lässt sich Hans-Peter Goldschmidt nach der Rückkehr aus dem Exil in West-Berlin nieder. Sein Sohn Tomas, der noch in Bolivien geboren wird und der schon von seinem Großvater Arthur Goldschmidt Tommy genannt wird, ist in den 1970er-Jahren Musiker in einer erfolgreichen Krautrockband namens »Karthago«.

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Über das Porträt

Ein »Erinnerungsstück« der
Klassik Stiftung Weimar
www.klassik-stiftung.de/herzogin-anna-amalia-bibliothek

Autoren: Katja Lorenz, Daniela Schindler, Andreas Schlüter, Robert Sorg 

Gestaltung und redaktionelle Bearbeitung: Dr. Ulrike Horstenkamp, Dr. Jessica Popp, AsKI e. V.

Techn. Bearbeitung von Bild-, Audio- und Videodateien: Franz Fechner, AsKI e.V.

Die Herzogin Anna Amalia Bibliothek dankt an dieser Stelle ganz besonders der Familie von Arthur Goldschmidt für die Bereitstellung von Bildmaterial und Informationen.

Für die Unterstützung der Recherchen danken wir dem Stadtarchiv Kitzbühel, dem Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin, dem Metropol-Verlag Berlin, Herrn Günther Trauzettel (Stolberg im Rheinland), der Leipziger Freimaurerloge Minerva zu den drei Palmen e.V. und dem Grassimuseum Leipzig.

Quellenangaben

Herzogin Anna Amalia Bibliothek

Die Herzogin Anna Amalia Bibliothek ist eine Archiv- und Forschungsbibliothek für die europäische Literatur- und Kulturgeschichte mit besonderem Schwerpunkt der Epoche zwischen 1750 und 1850. Sie ist heute Teil der Klassik Stiftung Weimar mit ihren Parkanlagen und Schlössern, ihren Museen und dem Goethe- und Schiller-Archiv. Dieses Ensemble bildet Sammlungszusammen­hänge, die vor allem durch die Weimarer Zeit um 1800 geprägt wurden.

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In der Tradition einer Fürstenbibliothek verfügt die Herzogin Anna Amalia Bibliothek über Sammlungen vom 9. bis zum 21. Jahrhundert, die laufend ergänzt, erschlossen und mit aktueller Forschungsliteratur zugänglich gemacht werden. Neben Schwerpunkten in Bereichen der historischen Drucke der Reformation (Bibeldrucke, Flugschriften, Katechismen), der Weimarer Klassik mit ihrer universellen bzw. polyglotten Ausrichtung und der Weimarer Moderne um 1900 bilden Inkunabeln, mittelalterliche Handschriften, Musikalien, Gartenbücher, Stammbücher, Huldigungs­schriften, Einbände, Landkarten und Globen sowie eine Militärbibliothek Sammlungskerne. Darüber hinaus sind Privat-, Arbeits- und Familienbibliotheken wie die von Angehörigen des Herzoglichen Hauses, von Goethe, v. Arnim, Liszt und Nietzsche in die Sammlungen des Hauses eingegangen. Ebenso stehen thematische Sammlungen wie die zu Faust, die Bibliotheken der Deutschen Shakespeare- und Dante-Gesellschaft oder zum Thema Buchenwald für Besucher und Forscher zur Verfügung. Sie umfasst heute über eine Million Bände und rund 200.000 Drucke mit Erscheinungs­datum vor 1850. Durch die dichte Überlieferung an Literatur und Übersetzungen aus der Zeit um 1800 wird in der Sammlung Goethes Idee der ›Weltliteratur‹ greifbar.