Rudolf Serkin
1903–1991

Ein feuriger
Reger-Engel

»

Wer gehört hat, wie Serkin Reger spielt wird sich klar, dass nur er in Frage kommen kann, uns dieses unerhörte Kunstwerk darzubieten. […] der Name Reger [wird] immer wieder die Erinnerung an Rudolf Serkin wachrufen.

Zeitgenössische Kritik

Noch wichtiger als Sammler, die Kunst­werke als Auto­gra­phen bewahren, sind in der Musik die Inter­preten, um die Werke im Augenblick der Auf­füh­rung lebendig werden zu lassen. Im Be­wusst­­sein dieser Abhän­gigkeit war der Kom­po­nist MAX REGER (1873–1916) bis zur Erschöpfung all­abendlich aufgetreten, um seinen Part­nern zu vermitteln, wie seine Werke inter­pretiert werden sollten. Auch die heutige Forschungs­einrichtung Max-Reger-Institut ist trotz einer bedeu­tenden Auto­graphen­sammlung als Grundlage de­r Fors­chung von dieser Ver­lebendigung durch Inter­preten abhängig, umso mehr, als Reger in seinen Werken kom­pro­misslos alles Gefällige ablehnte und bis heute den Aus­­füh­renden leichten Erfolg wie den Hörern unmittelbares Ver­ständnis ver­wei­gert. Als beispiel­haften Reger-Inter­pre­ten möchte das Max-Reger-Institut den Pianisten Rudolf Serkin ins Gedächtnis rufen.

»Ein Wunderkind aus der Schule Robert«

Rudolf Serkin wird 1903 im böhmischen Eger, heute tsche­­chi­schen Cheb, als Kind aus Russland einge­wanderter jüdi­scher Eltern geboren. Obwohl sie nicht mehr dem orthodoxen Glauben der Vorfahren an­hängt, wird die kin­der­reiche Familie als Teil der jüdischen Minderheit ausge­grenzt und lebt in großer Armut. Dennoch wird dem musikalischen Sohn ab dem fünften Lebensjahr so erfolg­reicher Klavier­unterricht er­mög­licht, dass er mit nur neun Jahren, noch zu jung für die Aufnahme im Prager Kon­ser­va­to­rium, von dem bekannten Pianisten Alfred Grünfeld nach Wien in die Obhut des Klavier­päda­gogen Richard Robert geschickt wird. Von Heimweh geplagt, stürzt er sich in das Studium und erwirbt neben einer unerschütterlichen Beherr­schung der manuellen Technik umfassende Kenntnis des Kanons der Werke von Bach bis Brahms.

Interview mit Rudolf Serkin und Isaac Stern – Teil 1 von 3

Ab Juli 1915 kümmert sich Eugenie Schwarzwald, Doktorin der Germa­nistik und Leiterin einer fort­schritt­lichen Mädchenschule, um seine geistige Wei­ter­bildung, wofür er ihr lebenslang dankbar bleibt. In ihrem großen Freundeskreis trifft er auf berühmte Zeit­ge­nossen wie den Maler Kokosch­ka und den Archi­tek­ten Adolf Loos.

Nach seinem ersten Wiener Auftritt am 1. Februar 1916 mit Mendels­sohns g-moll Kon­zert op. 25 wird der noch nicht 13-Jährige als »Wunder­kind« gefeiert, bei dem sich Pas­sagen­­technik, rhythmisches Gefühl und vielfältige Klang­gestal­tung paare; in seinem im selben Monat fol­gen­den Solo­recital überrascht seine »reife Inter­preta­tion«; und nach seinem ersten Kammer­musik­auftritt stellt die Kritik fest:

»Rudolf Serkin, ein Wunder­­kind aus der Schule Robert, [...] erweist sich an seinem ersten Abend merk­­würdiger­­­weise als Kammer­­musik­­spieler noch über­zeugender, als als Solist.«1

Im selben Jahr macht ihn Adolf Loos mit Arnold Schön­berg bekannt, der ihn 1919 als jüng­sten Interpreten in seinen neu gegründeten Verein für musi­ka­lische Privat­auf­füh­run­gen auf­nimmt, dessen Ziel es ist, den Hörern Verständnis für zeit­ge­nös­si­sche Werke zu er­schlie­ßen. Max Reger ist in den Vereinskonzerten der meist­auf­ge­führ­te Komponist – noch vor Schönberg und Debussy. Auch wenn Serkin nur dessen Vortrags­stücke op. 103a mit dem Geiger Rudolf Kolisch spielt, wird er mit einem repräsentativen Aus­schnitt aus Regers Schaffen – in nur drei Jahren Vereinstätigkeit erklingen 23 seiner Werke mit mehrfachen Wieder­holun­gen – bekannt. Zwar werden Schönbergs gänzliche Hingabe an die Musik, seine endlose Probenarbeit sowie seine pädagogischen Ideale lebens­langen Einfluss auf Serkin haben, doch fühlt er sich, ausschließlich auf die Moderne festgelegt, unglücklich und will Wien verlassen.

Als Duo-Partner Adolf Buschs in der Tradition Max Regers

Mit der Einladung des berühmten Geigers und Violinprofessors Adolf Busch (1891–1952) nach Berlin tritt eine entscheidende Wende in sein Leben: Ende 1920 wird der 17-Jährige wie ein älterer Bruder der drei­jähri­gen Tochter Irene in das Haus in Berlin-Lichter­felde aufge­nommen. Die Wohn­gemein­schaft wird alle Umzüge (1922 nach Darmstadt, 1927 nach Basel St. Alban Vorstadt und 1931 nach Basel-Riehen) überdauern und auch nach der Emi­gra­tion 1939 bestehen bleiben, zumal Serkin 1935 Irene heiratet. Dem Juden­tum ent­frem­det, beabsichtigt er Anfang der 1930er-Jahre, zum Christentum zu kon­ver­­tieren, sieht aus Solidarität mit den zunehmend ange­fein­deten deut­schen Juden aber von diesem Schritt ab.2

»... wie eine große Familiensaga«: Prof. Dr. Susanne Popp erzählt die Geschichte von Rudolf Serkin und dem Max-Reger-Institut, Teil 1 von 4

Serkins Plan, in Berlin Unterricht bei Ferruccio Busoni zu nehmen, scheitert an dessen Ablehnung, weil er zu weit fortgeschritten sei und lieber Erfahrungen sammeln solle. Er tut dies unter günstig­sten Bedin­gun­gen: Der seit Regers Tod ver­wais­te Duospieler Busch, der sich nur noch gelegentlich mit seinem Bruder, dem Dirigenten Fritz Busch, zum Reger­spiel zusam­men­gefunden hatte, macht ihn zu seinem bevorzugten Partner, in ähnlicher Konstellation, die ihn selbst mit dem Komponisten ver­bun­­den hatte, der in dem um 18 Jahre jüngeren Geiger einen Zukunfts­ga­ran­ten gesehen und ihm in seiner letzten Konzertsaison 1915/16 in vielen gemein­samen Auftritten sein Inter­pre­tations­ideal weitergegeben hatte.

Das Duo, das sich mit künst­le­rischer Ernst­haftig­keit gegen ober­fläch­liches Virtuo­sen­tum wendet, räumt Reger in seinem Repertoire einen wichtigen Platz ein und stellt ihn wie keinen anderen neueren Kom­­po­nis­ten neben Bach, die Wiener Klassi­ker und die Romantiker: Bis 1933 sind über 130 Konzerte in ganz Deutsch­land, aber auch in der Schweiz, in Dänemark, England, Italien, Österreich und der Tschecho­slowakei nach­ge­wiesen, in denen Regers Violinsonaten, das Klavier­trio e-moll op. 102, das Klavier­quartett a-moll op. 133 und Solo­werke, allen voran die Bach- und Telemann-Variationen erklangen. Sicher ist dies nur die untere Grenze, da von weiteren gemein­samen Auftritten zwar die Daten, nicht aber die Programme bekannt sind.3

Scherzo aus der Sonate fis-Moll op. 84 für Violine und Klavier, Adolf Busch (Violine), Rudolf Serkin (Klavier), Abbey Road Studios, London 7. 5. 1931, Gramophone (His Master’s Voice) D.B. 1523
Programmheft »Bach-Reger-Feier in Heidelberg, Oktober 1922«
Programmheft »Bach-Reger-Feier in Heidelberg, Oktober 1922« / © Brüder-Busch-Archiv

MAX REGER

Max Reger (1873–1916) war ein Vertreter der nach-roman­ti­schen Komponis­ten­generation und zugleich ein von Arnold Schön­berg wie Paul Hindemith geschätzter Wegbereiter der Neuen Musik; die Viel­seitig­keit und Kom­plexi­tät seines Schaf­fens und sein Streben nach „Musik als Dauerzustand“ macht jede einfache Ein­ord­nung unmöglich, zumal sich das Grundprinzip der Ab­leh­nung aller Zwangsläufigkeit als roter Faden durch Lebensgang und Kunstproduktion des Kom­po­nis­ten zieht. Wie er selbst sagte, drängte ihn sein Hirn zu unent­wegtem Schaffen, so dass er oft an mehreren Werken parallel arbeitete und Schaffens­pausen nicht ein­tre­ten ließ. „Erho­lung“ bedeuteten ihm alle anderen Formen des Musik­machens: Bearbeiten, Konzertieren als Pianist und Dirigent, musik­ästhe­tische Streitschriften verfas­sen, Unter­richten, und dies alles unter äußerstem selbst­auf­erlegtem Zeitdruck.

Gegen den Geschmack seiner Zeit hat er Prinzipien barocken Schaffens (Formen wie Fuge und Passacaglia, polyphone Stimm­führung) in die eigene Sprache adaptiert, die mit überreichem modulatorischen Geschehen an die Grenzen der Tonalität führt und mit äußer­ster Konsequenz die Selb­stän­dig­keit der Linie und moti­vi­sche Durch­ge­staltung aller Werkteile verfolgt. Stets ist sen­sible Feinarbeit mit expres­siver Ausdrucks­­stärke verbunden.

Große Interpreten wie Rudolf Serkin haben sich immer wieder leiden­schaft­lich für seine „ge­lehr­te und zugleich stürmische Musik“ (Julien Green) eingesetzt, auch wenn Reger es ihnen mit rücksichts­losem technischen Anspruch nicht leicht macht. Der Musik­wissen­schafter Jans Malte Fischer fasste im Jubiläumsjahr 2016 zusammen: „Dieser Max Reger ist ein gewal­ti­ger Kom­po­nist. Nur wenige seines Ranges leiden dermaßen unter Un­kennt­nis, Vorurteilen und Mißtrauen. Im Komponisten­himmel muss er in der ober­sten Etage zu finden sein, nur steht sein Stuhl in einem schatten­reichen Winkel, aus dem er herausgeholt werden sollte.“

 

Sausende Oktavengänge

Vielfach wirken Busch und Serkin bei den Festen der Max Reger-Gesell­schaft mit und gelten als führende Inter­preten der beiden Solo­kon­zerte. Auch damit gibt Busch eine Tradi­tion weiter: Nachdem er Reger als 17-jähriger Kon­ser­va­to­riums­stu­dent sein immens schwie­ri­ges Violin­konzert op. 101 »aus­wen­dig, vollen­det schön in Ton, Technik etc.« vorgespielt hatte,4 war er in den Jahren 1910-12 viermal damit unter Leitung des Komponisten aufge­tre­ten und hatte auch nach dessen Distan­zierung (»es ist und bleibt ein Monstrum«5) unbeirrt an dem Werk fest­ge­halten. Serkin wiederum tritt als 18-Jähriger Anfang Januar 1922 mit dem Wiener Tonkünstler-Orchester unter Wilhelm Furt­wäng­ler erstmals als Interpret des Klavier­konzerts op. 114 an die Öffentlichkeit und erntet begeisterte Kritik: 

»Die wunderbare, noch ferne Größe Regers trat kurz darauf bei Furt­wäng­ler in seinem F-Moll-Konzert zu uns. Ein Wunderwerk, eine Faust­dichtung für Klavier und Orchester, eines der Werke, die man gleich zum zweiten­male hören sollte. [...] Rudolf Serkin, der begabte Schüler eines begabten Lehrers (Professor Roberts) spielte das Werk mit einer Rubin­stein­schen Faust. [...] er bändigt den Stoff und Geist und dringt, was unerlernbar ist, in die mystischen Enden des Werkes ein.«6

Konzert f-Moll op. 114 für Klavier und Orchester, I. Allegro moderato (Anfang), Rudolf Serkin (Klavier), Philadelphia Orchestra, Eugene Ormandy, Broadwood Hotel, Philadelphia 30. 3. 1959

»Was kümmern diesen Serkin sausende Oktavengänge, was kümmern ihn akkordische Läufe im schnellsten Tempo? Er nimmt alle Hindernisse wie ein edler Renner.«

Seitdem begeistert er seine Zuhörer regelmäßig mit den hoch­expres­siven Klängen dieses wegen seiner Schwie­rig­keit von vielen Pianisten gemie­denen Werkes. Nach einer Berner Aufführung im Jahr 1927 heißt es: »In diesem Künstler steckt die ganze Jugend. Was kümmern diesen Serkin sausende Oktaven­gänge, was kümmern ihn akkordi­sche Läufe im schnellsten Tempo? Er nimmt alle Hindernisse wie ein edler Renner. Schwierigkeiten gibt es offenbar für diesen 24 jährigen nicht. Er ist völlig souverän und kann daher auch völlig frei gestalten. [...] Den langsamen Satz spielt dieser junge Titan mit einer Zartheit des Anschlages und Ausdruckes, wie man‘s heute nicht gar oft von Jungen hört.«7

Konzert f-Moll op. 114 für Klavier und Orchester, II. Largo con gran espressione (Anfang), Rudolf Serkin (Klavier), Philadelphia Orchestra, Eugene Ormandy, Broadwood Hotel, Philadelphia 30. 3. 1959, Columbia ML 5635

Noch im Oktober 1932 gilt seine Inter­pretation als Höhepunkt des 8. Reger-Festes der Max Reger-Gesellschaft in Baden-Baden: Wer gehört habe, »wie Rudolf Serkin Reger spielt«, werde sich klar, dass »nur er in Frage kommen kann, uns dieses unerhörte Kunstwerk dar­zu­bieten. Seine Bedeutung liegt in der unglaublichen Sensibilität, der seltsamen Reinheit seines Stils. Das Erlebnis dieses Abends wird so fest in unserer Seele sein, daß der Name Reger immer wieder die Erinnerung an Rudolf Serkin wachrufen wird.«8 Doch sollen nur wenige Monate vergehen, bis der Schwäbische Kurier zu behaupten wagt: »Es war uns schon immer unverständlich, daß der Geiger Adolf Busch zu seinem ständigen Partner den Juden Rudolf Serkin auserkor, der zwar ein virtuoses Spiel vortrug, dem aber jede Wärme und Seele fehlte.«9

Schwäbischer Kurier, 03.05.1933
Schwäbischer Kurier, 03.05.1933
Interview mit Rudolf Serkin und Isaac Stern – Teil 3 von 3

Adolf Buschs Freund­schafts­beweis

Mit Hitlers Wahl zum Reichs­kanzler setzt die systematische Verfol­gung deutsch-jüdischer Mitbürger ein. Am 1. April 1933 betrifft der Aufruf zum »Judenboykott« wie ein Pau­ken­­schlag zunächst Geschäfte, Kanz­leien, Banken und Arzt­praxen; ihm folgt am 7. April die Ausgrenzung aller Juden vom Beamten­status. Für Adolf Busch gibt der Boykott den Ausschlag, eine Konzert­reise mit seinem Quartett abzubrechen und den Veran­staltern am 4. April 1933 zu erklären: »die Aktion christlicher Landsleute gegen deutsche Juden, die darauf abzielen, Juden aus ihren Berufen zu ver­drän­gen und sie ihrer Ehre zu berauben«, habe ihn ans Ende seiner psychischen und physischen Kräfte gebracht.10 Am 6. April wird Serkin ausge­laden, in Hamburg zum 100. Geburtstag von Brahms zu spielen, da »das Brahms­fest nur mit deutsch­stämmigen Künstlern besetzt werden darf.«11 Busch und sein Quartett dagegen sollen weiterhin dort auftreten, was dieser zurück­weist: »Empört über Zumutung. Selbstverständlich spiele ich nicht. Busch.«12

»Der deutsche Geiger Adolf Busch hat wegen der Maßnahme gegen deutsche Juden und Kollegen seine Konzert­tätigkeit in Deutschland bis auf weiteres eingestellt.«

Am 10. April folgt der Schluss­strich; Busch lässt durch die Schweizer Depeschen­agentur verbreiten: »Der deutsche Geiger Adolf Busch hat wegen der Maßnahme gegen deutsche Juden und Kollegen seine Konzerttätigkeit in Deutschland bis auf weiteres eingestellt.«13 Der Schritt fordert wutschnaubende Reaktionen in der Presse heraus: »Der bekann­te Geiger Adolf Busch hat sein semiten­freundliches Herz entdeckt u. Deutschland verlassen, weil er sich über die Maßnahmen gegen die deutschen Juden nicht beruhigen kann. Unsere hohen Gagen hat er bisher mit Freuden eingesteckt, und jetzt, da er dem Vaterland seine Dankbarkeit zeigen könnte, versagt er auf diese erbärmlich Weise. Er stellt sich damit in eine Reihe mit den Einstein und Ludwig Cohn, und wir werden ihn  danach beurteilen.«14

Nach Amerika – mit Reger im Gepäck

Ihren gemeinsamen Wohn­sitz behalten Buschs und Serkin in Basel-Riehen und erhalten dort 1935 bzw. 1937 die Schweizer Staats­bürger­schaft. Doch strecken sie frühzeitig ihre Fühler in die USA aus: Am 24. April 1933 gibt das Busch-Quartett seine erstes Konzert in New York, am nächsten Tag folgt der erste Sonaten­abend des umjubelten Duos in der Library of Congress in Washington u. a. mit Regers Violin­sonate e-moll op. 122. Und obwohl Serkins ameri­kanische Solisten­karriere 1936 mit Beet­hovens Konzerten unter Toscanini beginnt und vornehm­lich auf phänomenalen Interpretation von Beet­hovens und Schuberts Werken fußt, hält er Reger die Treue: Bei seinem wichtigen Solisten­debut in der Carnegie Hall am 11. Januar 1937 stehen die Bach-Variationen auf dem Programm, deren Wahl Serkin am 1. Januar 1937 Otto Grüters erklärt: »Die Konzerte und das Publikum sind bis jetzt sehr befriedigend. Sie lieben die Musik bei der sie sich anstren­gen müssen (nicht nur der Künstler).«15 

»Sie lieben die Musik bei der sie sich anstrengen müssen (nicht nur der Künstler).«

Serkin über das amerikanische Publikum

In der Carnegie Hall wird er das Werk noch drei weitere Male vor begeister­tem Publi­kum spie­len16 und am 16. November 1945 in Minneapolis unter DIMITRI MITROPOU­LOS die ameri­kani­sche Erstaufführung von Regers Klavierkonzert bringen.

ERIKA und KLAUS MANN berichten in Escape to life. Deutsche Kultur im Exil17 von einem Hauskonzert bei dem New Yorker Mediziner CARL MUSCHENHEIM, zu dessen Zuhörern JASCHA HEIFETZ, ARTURO TOSCANINI und der aus Princeton angereiste ALBERT EINSTEIN zählten. Das ungleiche Duo – »ein westfäl­ischer Bauernjunge, wie ein Junge immer noch, obgleich er fünfzig Jahre alt sein muß – und der kleinere, schmale, dunkle Serkin«, sei »kein gefall­süchtiges Virtuosen­paar [...]. Hinter den ernsten Stirnen ist kein Gedanke auf den ’Erfolg‘, auf den ’Ruhm‘ gerichtet.«18 EINSTEIN habe ernst angemerkt:

»Das ist Deutsch­land, das ist das wahre und das beste Deutsch­land; was für ein Glück, daß wir es überall wieder­fin­den, wo solche Musik ge­macht wird; und was für ein Beweis – wenn wir noch einen nötig hätten – gegen diese Rassen­idio­tie. Kann man sich ein schöneres Zusammen­spiel, ein reineres Ineinander­auf­gehen denken, als das, was diesen beiden, dem hellen und dem dunklen, dem ’Arier‘ und dem jungen Juden gegeben ist?«19

Marlboro – ein Mekka für junge Kammer­musiker

Nachdem Serkin eine Lehr­tätigkeit am Curtis Institute of Music in Phila­delphia angeboten worden war, emigriert die Familie Busch-­Serkin 1939 nach Ameri­ka. Die bald über­tragene Leitung des Curtis Instituts behält Serkin bis 1976 bei.

Die Krönung der musika­lischen Zusam­men­arbeit ist die Grün­dung des Marlboro Music Festivals mit Summer school, in einem kleinen Ort in der Nähe von Guil­ford im Bundes­staat Vermont, dem Wohn­sitz der Familien, die hier idyllische Sommer­monate verbracht und Ende des Krieges ein Grund­stück erworben haben. In Marl­boro, einem wahren Mekka für junge Musiker, wird seit dem Sommer 1951 das Interpre­ta­tions­ideal gleich­berech­tigten Zusammen­spiels realisiert, an Kammer­musik­werken mit eigener Physio­gnomie und Aussage, in deren Dienst sich exzel­lente erfahrene Interpreten mit jungen Instrumentalisten stellen, ohne Starallüren und autoritäre Unterrichtsstrukturen.

Serkin in Malboro, 1966
Serkin in Malboro, 1966 / © Brüder-Busch-Archiv
Serkin in Malboro
Serkin in Malboro / © Brüder-Busch-Archiv

Nach Buschs frühem Tod 1952 ist Serkin 40 Jahre lang künstlerischer Leiter dieses Festivals, das sich wiederholt auch Regers Werk widmet: Seine in Marlboro mit Pina Carmi­relli vorgestellte begeis­ternde Interpretation der Sonate c-moll op.139 ist auf Tonträger ebenso erhalten wie eine Auffüh­rung der Klarinetten­sonate B-dur op. 107 mit David Singer, während sein Zusammenspiel mit Busch nur mit früheren Aufnahmen der Suite im alten Stil op. 93  sowie des Scherzo der Sonate fis-moll op. 84 (1931) dokumentiert ist. Zusammen mit Serkins legendären Einspielun­gen der Bach-Variationen (1984) und des Klavier­konzerts (1959) geben sie ein Bild, das mit den Worten des Musik­kritikers Karl Schumann, damals General­sekre­tär der Bayerischen Akade­mie der Schönen Künste, in seiner Laudatio zur Verleihung des Ernst-von-Siemens-Musikpreis am 20. April 1979 vollkommen überein­stimmt: Er charak­terisiert den Pianisten als Expressionisten aus der »Generation der musika­lischen Präzisions­fana­ti­ker« und betont sein Drängen »auf ein Maximum an Ausdruck, an Akzenten, Dynamik und Spannung«:

»Serkin liebt – gut expressio­nis­tisch – jene, die Unmögliches begehrten, Unbezwing­bares häuften, weder dem Solisten noch dem Publikum Entgegen­kommen zeigten. So ist er seit Jahrzehnten so ziemlich der einzige Pianist von Weltrang, der das über sämtliche Ufer tretende Klavierkonzert von Max Reger immer wieder aufführt, um sich an der äußersten Grenze der expressiven Möglichkeiten seines Instruments zu bewegen und um darzutun, welche geradezu vermessene Steigerung über Brahms hinaus das sympho­nische Konzert für Klavier und Orchester erfahren hat.«20

Nach Deutschland kehrt Serkin, seit 1948 amerikanischer Staatsbürger, erstmals im Mai 1957 zu einem Konzert in Düssel­dorf zurück, wei­tere Auftritte folg­ten. ­Seine Frau Irene begleitete ihn in der Regel nicht: »Sie ist zu deutsch, um zu verge­ben«, soll Serkin erkärt haben.21 Er selbst lehnte im Oktober 1974 die Verleihung des Großen Bundes­ver­dienst­kreuzes der Bundesrepublik ab, akzeptierte aber 1981 den Orden Pour le Mérite für Wissen­schaften und Künste.

Eine große Ehre für das Max-Reger-Institut­ war es, dass er 1986 – im 70. Todes­jahr Regers – , Mitglied seines Kuratoriums wurde, dem er bis zu seinem Tod im Mai 1991 angehörte.

»... wie eine große Familiensaga«: Prof. Dr. Susanne Popp erzählt die Geschichte von Rudolf Serkin und dem Max-Reger-Institut, Teil 2 von 4

Aufnahme des Max-­­Reger-­Instituts in die Busch-­­Serkin-Familie

­Im November des Jahres beweist seine Witwe Irene Serkin, dass sie vergeben hat: Sie besucht das Bonner Max-Reger-Institut und schenkt ihm eine Samm­lung von Reger-Briefen und Postkarten Max Regers an ihren Großvater, den Bonner Städtischen Musikdirektor Hugo Grüters. Die Schenkung bildet den Auftakt zu einer wert­vol­len Bereicherung des Aufga­ben­spektrums des Instituts: Durch die Überlassung der in Jahrzehnten von Wolfgang Burbach in Hilchen­­bach aufge­bauten Sammlung des Brüder-Busch-Archivs – 1999 zunächst als Dauerleihgabe zur wissenschaftlicher Auswertung, 2003 als Zustiftung –  sind Doku­mente zum Wirken der Brüder und des in die Musiker­familie inte­grierten Schwie­ger­­sohns und Duopartners Serkin reich vorhanden und fordern zur Erforschung auf.

»... wie eine große Familiensaga«: Prof. Dr. Susanne Popp erzählt die Geschichte von Rudolf Serkin und dem Max-Reger-Institut, Teil 3 von 4

Dass auch Hedwig Busch, die zweite Frau Adolfs, dem Max-Reger-Institut 1999 Reger-Briefe an Max Fried­län­der und 2003 und 2004 aus­drucks­volle Adolf-Busch-Gemäl­de der befreundeten Schweizer Maler Alfred Heinrich Pelle­grini und Jean Jacques Lüscher überlässt, unterstreicht nicht nur ihre große Zustimmung zum Verbleib des Brüder-Busch-Archivs, sondern bestätigt auch die enge Verbindung zwischen Reger, seiner Interpreten-Familie und seinen Forschern.

»... wie eine große Familiensaga«: Prof. Dr. Susanne Popp erzählt die Geschichte von Rudolf Serkin und dem Max-Reger-Institut, Teil 4 von 4

Bis zum Schluss ist Serkin sich treu geblieben, wie Gerhard R. Kochs zum 80. Geburtstag verfasste Be­trach­tung eines feurigen Engels belegt, den der »feine Gelehrten­kopf«, »die schmächtige Gestalt und die rasende Attacke« faszinierten:

»Betrachtung eines feurigen Engels«, Zeitungsartikel Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.3.1983
»Betrachtung eines feurigen Engels«, Zeitungsartikel Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.3.1983

»Welch sprengende Gewalt Beethovens Crescendi und Sforzati, den Akkord-Entladungen bei Brahms und Reger [...] innewohnt, das vermittelte Serkin mit oft krasser Schärfe«; dabei sei er zugleich aber ein »unvergleichlicher Kantilenen- und Pianissimo-­Künstler«.22

Genau diese Eigenschaften machen ihn zum idealen REGER-Interpreten und -Vermittler.

Das Max-Reger-Institut

ELSA REGER (1870–1951), die Witwe des Kompo­nisten MAX REGER (1873–1916), errichtete 1947 eine Stiftung mit dem Auftrag, den in alle Welt verteilten Nachlass ihres Mannes aufzu­spüren und auf dieser Grundlage die Erfor­schung des Œuvres und den Diskurs mit REGER-Interpreten und Wissen­schaft­lern voranzutreiben. Einziges Stiftungs­vermögen war nach dem Tod der Stifterin 1951 das Urhe­ber­recht, dessen Früchte anfangs nur bescheiden flossen, da Auffüh­ru­gen äußerst selten waren, mit wach­sen­der Beachtung des Komponisten aber die finanzielle Grundlage zum Aufbau der Samm­lung boten, die Noten­manu­skripte und Erst­drucke, Briefe und Doku­mente, Fotos und Bildnisse, Ton­träger sowie die Internationale Literatur umfasst.

Als nach vier Jahrzehnten aus­­schließ­­lich aus Eigenmitteln finan­zierter und zum großen Teil auf ehrenamtlichem Engage­ment basierender Tätigkeit das Urheber­recht erlosch und damit die Tantiemen versiegten, erhielt das Max-Reger-Institut erstmals eine öffent­liche Förderung, zunächst vom Land Nordrhein-West­falen und der Stadt Bonn, seit 1996 vom Land Baden-Württem­berg und der Stadt Karlsruhe.

Dr. Alexander Becker über die Arbeit des Max-Reger-Instituts

Am neuen Standort mit örtlichen Kooperationspartnern wie der Musik­hoch­schule und der Badi­schen Landesbibliothek, weltweit mit REGER-Interpreten und -Forschern verbunden, durch Lang­fristprojekte der Deutschen For­schungs­ge­mein­schaft und der Akademie der Wissen­schaften und der Literatur in Mainz sowie groß­zügige Spenden gefördert und als Mitglied des AsKI auch inter­dis­zi­plinär vernetzt, arbeitet das Max-Reger-Institut als inter­­natio­­nal gefragtes Kompe­tenz­zentrum, das seine For­schungs­ergebnisse u. a. im REGER-Werk­ver­zeich­nis (2010) und seit 2008, als Pionier im Fach Musik­wissen­schaft, in einer hybriden REGER-­Werkausgabe veröffentlicht, Tagungen aus­richtet, Disserta­tionen begleitet und REGERS Werk und farbige Persönlichkeit in Gesprächs­konzerten und Ausstellungen ver­mittelt.

Dabei setzt es, schon lange vor der Corona-Krise, auf digitale Wege und macht im Online Max-Reger-Portal seine Sammlung und Resultate seiner wissen­schaft­lichen Arbeit für Experten und interessierte Musik-Liebhaber zu­gäng­lich. Unter https://maxreger.info  findet sich hier eine Klanggalerie mit über 80 ausgewählten Einspielungen von Werken Regers, eine Bildergalerie und verschiedene Vermit­tlungs­ange­bote zum Leben und Werk des Komponisten.

Im Bewusstsein, dass Musik erst im Augenblick ihres Erklingens le­ben­­dig wird, steht der Austausch mit Inter­pre­ten, wie schon bei MAX REGER selbst, im Zentrum der Institutsarbeit. Das spiegelt sich nicht zuletzt in der Besetzung des Kuratoriums, dem renommierte Musiker wie der Pianist RUDOLF SERKIN, der Cellist SIEGFRIED PALM, der Klarinettist WOLFGANG MEYER u.a. ange­hörten und in dem heute der Pianist MARKUS BECKER als stell­vertretender Vorsitzender fungiert.

Eine große Bereicherung des Forschungsspektrums bedeutete daher 2003 die Zustiftung des über Jahrzehnte von WOLFGANG BURBACH aufgebauten Brüder-Busch-Archivs, das wichtige Doku­mente zur Künstlerfamilie BUSCH enthält, deren berühmteste Repräsentanten der Dirigent FRITZ BUSCH und der Geiger ADOLF BUSCH sowie dessen Schwieger­sohn RUDOLF SERKIN sind.

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Über das Porträt

Ein »Erinnerungsstück« von
Max-Reger-Institut / Elsa-Reger-Stiftung, Karlsruhe
www.max-reger-institut.de

Autorin: Prof. Dr. Susanne Popp, ehemalige Leiterin des Max-Reger-Instituts

Redaktionelle Bearbeitung und Gestaltung: Dr. Jessica Popp, AsKI e.V.

Videos und Digitalisate: David Koch, Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Max-Reger-Instituts

Techn. Bearbeitung von Bild-, Audio- und Videodateien: Franz Fechner, AsKI e.V.

Quellenangaben