»Wer gehört hat, wie Serkin Reger spielt wird sich klar, dass nur er in Frage kommen kann, uns dieses unerhörte Kunstwerk darzubieten. […] der Name Reger [wird] immer wieder die Erinnerung an Rudolf Serkin wachrufen.
Noch wichtiger als Sammler, die Kunstwerke als Autographen bewahren, sind in der Musik die Interpreten, um die Werke im Augenblick der Aufführung lebendig werden zu lassen. Im Bewusstsein dieser Abhängigkeit war der Komponist MAX REGER (1873–1916) bis zur Erschöpfung allabendlich aufgetreten, um seinen Partnern zu vermitteln, wie seine Werke interpretiert werden sollten. Auch die heutige Forschungseinrichtung Max-Reger-Institut ist trotz einer bedeutenden Autographensammlung als Grundlage der Forschung von dieser Verlebendigung durch Interpreten abhängig, umso mehr, als Reger in seinen Werken kompromisslos alles Gefällige ablehnte und bis heute den Ausführenden leichten Erfolg wie den Hörern unmittelbares Verständnis verweigert. Als beispielhaften Reger-Interpreten möchte das Max-Reger-Institut den Pianisten Rudolf Serkin ins Gedächtnis rufen.
Rudolf Serkin wird 1903 im böhmischen Eger, heute tschechischen Cheb, als Kind aus Russland eingewanderter jüdischer Eltern geboren. Obwohl sie nicht mehr dem orthodoxen Glauben der Vorfahren anhängt, wird die kinderreiche Familie als Teil der jüdischen Minderheit ausgegrenzt und lebt in großer Armut. Dennoch wird dem musikalischen Sohn ab dem fünften Lebensjahr so erfolgreicher Klavierunterricht ermöglicht, dass er mit nur neun Jahren, noch zu jung für die Aufnahme im Prager Konservatorium, von dem bekannten Pianisten Alfred Grünfeld nach Wien in die Obhut des Klavierpädagogen Richard Robert geschickt wird. Von Heimweh geplagt, stürzt er sich in das Studium und erwirbt neben einer unerschütterlichen Beherrschung der manuellen Technik umfassende Kenntnis des Kanons der Werke von Bach bis Brahms.
Ab Juli 1915 kümmert sich Eugenie Schwarzwald, Doktorin der Germanistik und Leiterin einer fortschrittlichen Mädchenschule, um seine geistige Weiterbildung, wofür er ihr lebenslang dankbar bleibt. In ihrem großen Freundeskreis trifft er auf berühmte Zeitgenossen wie den Maler Kokoschka und den Architekten Adolf Loos.
Nach seinem ersten Wiener Auftritt am 1. Februar 1916 mit Mendelssohns g-moll Konzert op. 25 wird der noch nicht 13-Jährige als »Wunderkind« gefeiert, bei dem sich Passagentechnik, rhythmisches Gefühl und vielfältige Klanggestaltung paare; in seinem im selben Monat folgenden Solorecital überrascht seine »reife Interpretation«; und nach seinem ersten Kammermusikauftritt stellt die Kritik fest:
»Rudolf Serkin, ein Wunderkind aus der Schule Robert, [...] erweist sich an seinem ersten Abend merkwürdigerweise als Kammermusikspieler noch überzeugender, als als Solist.«1
Im selben Jahr macht ihn Adolf Loos mit Arnold Schönberg bekannt, der ihn 1919 als jüngsten Interpreten in seinen neu gegründeten Verein für musikalische Privataufführungen aufnimmt, dessen Ziel es ist, den Hörern Verständnis für zeitgenössische Werke zu erschließen. Max Reger ist in den Vereinskonzerten der meistaufgeführte Komponist – noch vor Schönberg und Debussy. Auch wenn Serkin nur dessen Vortragsstücke op. 103a mit dem Geiger Rudolf Kolisch spielt, wird er mit einem repräsentativen Ausschnitt aus Regers Schaffen – in nur drei Jahren Vereinstätigkeit erklingen 23 seiner Werke mit mehrfachen Wiederholungen – bekannt. Zwar werden Schönbergs gänzliche Hingabe an die Musik, seine endlose Probenarbeit sowie seine pädagogischen Ideale lebenslangen Einfluss auf Serkin haben, doch fühlt er sich, ausschließlich auf die Moderne festgelegt, unglücklich und will Wien verlassen.
Mit der Einladung des berühmten Geigers und Violinprofessors Adolf Busch (1891–1952) nach Berlin tritt eine entscheidende Wende in sein Leben: Ende 1920 wird der 17-Jährige wie ein älterer Bruder der dreijährigen Tochter Irene in das Haus in Berlin-Lichterfelde aufgenommen. Die Wohngemeinschaft wird alle Umzüge (1922 nach Darmstadt, 1927 nach Basel St. Alban Vorstadt und 1931 nach Basel-Riehen) überdauern und auch nach der Emigration 1939 bestehen bleiben, zumal Serkin 1935 Irene heiratet. Dem Judentum entfremdet, beabsichtigt er Anfang der 1930er-Jahre, zum Christentum zu konvertieren, sieht aus Solidarität mit den zunehmend angefeindeten deutschen Juden aber von diesem Schritt ab.2
Serkins Plan, in Berlin Unterricht bei Ferruccio Busoni zu nehmen, scheitert an dessen Ablehnung, weil er zu weit fortgeschritten sei und lieber Erfahrungen sammeln solle. Er tut dies unter günstigsten Bedingungen: Der seit Regers Tod verwaiste Duospieler Busch, der sich nur noch gelegentlich mit seinem Bruder, dem Dirigenten Fritz Busch, zum Regerspiel zusammengefunden hatte, macht ihn zu seinem bevorzugten Partner, in ähnlicher Konstellation, die ihn selbst mit dem Komponisten verbunden hatte, der in dem um 18 Jahre jüngeren Geiger einen Zukunftsgaranten gesehen und ihm in seiner letzten Konzertsaison 1915/16 in vielen gemeinsamen Auftritten sein Interpretationsideal weitergegeben hatte.
Das Duo, das sich mit künstlerischer Ernsthaftigkeit gegen oberflächliches Virtuosentum wendet, räumt Reger in seinem Repertoire einen wichtigen Platz ein und stellt ihn wie keinen anderen neueren Komponisten neben Bach, die Wiener Klassiker und die Romantiker: Bis 1933 sind über 130 Konzerte in ganz Deutschland, aber auch in der Schweiz, in Dänemark, England, Italien, Österreich und der Tschechoslowakei nachgewiesen, in denen Regers Violinsonaten, das Klaviertrio e-moll op. 102, das Klavierquartett a-moll op. 133 und Solowerke, allen voran die Bach- und Telemann-Variationen erklangen. Sicher ist dies nur die untere Grenze, da von weiteren gemeinsamen Auftritten zwar die Daten, nicht aber die Programme bekannt sind.3
Max Reger (1873–1916) war ein Vertreter der nach-romantischen Komponistengeneration und zugleich ein von Arnold Schönberg wie Paul Hindemith geschätzter Wegbereiter der Neuen Musik; die Vielseitigkeit und Komplexität seines Schaffens und sein Streben nach „Musik als Dauerzustand“ macht jede einfache Einordnung unmöglich, zumal sich das Grundprinzip der Ablehnung aller Zwangsläufigkeit als roter Faden durch Lebensgang und Kunstproduktion des Komponisten zieht. Wie er selbst sagte, drängte ihn sein Hirn zu unentwegtem Schaffen, so dass er oft an mehreren Werken parallel arbeitete und Schaffenspausen nicht eintreten ließ. „Erholung“ bedeuteten ihm alle anderen Formen des Musikmachens: Bearbeiten, Konzertieren als Pianist und Dirigent, musikästhetische Streitschriften verfassen, Unterrichten, und dies alles unter äußerstem selbstauferlegtem Zeitdruck.
Gegen den Geschmack seiner Zeit hat er Prinzipien barocken Schaffens (Formen wie Fuge und Passacaglia, polyphone Stimmführung) in die eigene Sprache adaptiert, die mit überreichem modulatorischen Geschehen an die Grenzen der Tonalität führt und mit äußerster Konsequenz die Selbständigkeit der Linie und motivische Durchgestaltung aller Werkteile verfolgt. Stets ist sensible Feinarbeit mit expressiver Ausdrucksstärke verbunden.
Große Interpreten wie Rudolf Serkin haben sich immer wieder leidenschaftlich für seine „gelehrte und zugleich stürmische Musik“ (Julien Green) eingesetzt, auch wenn Reger es ihnen mit rücksichtslosem technischen Anspruch nicht leicht macht. Der Musikwissenschafter Jans Malte Fischer fasste im Jubiläumsjahr 2016 zusammen: „Dieser Max Reger ist ein gewaltiger Komponist. Nur wenige seines Ranges leiden dermaßen unter Unkenntnis, Vorurteilen und Mißtrauen. Im Komponistenhimmel muss er in der obersten Etage zu finden sein, nur steht sein Stuhl in einem schattenreichen Winkel, aus dem er herausgeholt werden sollte.“
Vielfach wirken Busch und Serkin bei den Festen der Max Reger-Gesellschaft mit und gelten als führende Interpreten der beiden Solokonzerte. Auch damit gibt Busch eine Tradition weiter: Nachdem er Reger als 17-jähriger Konservatoriumsstudent sein immens schwieriges Violinkonzert op. 101 »auswendig, vollendet schön in Ton, Technik etc.« vorgespielt hatte,4 war er in den Jahren 1910-12 viermal damit unter Leitung des Komponisten aufgetreten und hatte auch nach dessen Distanzierung (»es ist und bleibt ein Monstrum«5) unbeirrt an dem Werk festgehalten. Serkin wiederum tritt als 18-Jähriger Anfang Januar 1922 mit dem Wiener Tonkünstler-Orchester unter Wilhelm Furtwängler erstmals als Interpret des Klavierkonzerts op. 114 an die Öffentlichkeit und erntet begeisterte Kritik:
»Die wunderbare, noch ferne Größe Regers trat kurz darauf bei Furtwängler in seinem F-Moll-Konzert zu uns. Ein Wunderwerk, eine Faustdichtung für Klavier und Orchester, eines der Werke, die man gleich zum zweitenmale hören sollte. [...] Rudolf Serkin, der begabte Schüler eines begabten Lehrers (Professor Roberts) spielte das Werk mit einer Rubinsteinschen Faust. [...] er bändigt den Stoff und Geist und dringt, was unerlernbar ist, in die mystischen Enden des Werkes ein.«6
»Was kümmern diesen Serkin sausende Oktavengänge, was kümmern ihn akkordische Läufe im schnellsten Tempo? Er nimmt alle Hindernisse wie ein edler Renner.«
Seitdem begeistert er seine Zuhörer regelmäßig mit den hochexpressiven Klängen dieses wegen seiner Schwierigkeit von vielen Pianisten gemiedenen Werkes. Nach einer Berner Aufführung im Jahr 1927 heißt es: »In diesem Künstler steckt die ganze Jugend. Was kümmern diesen Serkin sausende Oktavengänge, was kümmern ihn akkordische Läufe im schnellsten Tempo? Er nimmt alle Hindernisse wie ein edler Renner. Schwierigkeiten gibt es offenbar für diesen 24 jährigen nicht. Er ist völlig souverän und kann daher auch völlig frei gestalten. [...] Den langsamen Satz spielt dieser junge Titan mit einer Zartheit des Anschlages und Ausdruckes, wie man‘s heute nicht gar oft von Jungen hört.«7
Noch im Oktober 1932 gilt seine Interpretation als Höhepunkt des 8. Reger-Festes der Max Reger-Gesellschaft in Baden-Baden: Wer gehört habe, »wie Rudolf Serkin Reger spielt«, werde sich klar, dass »nur er in Frage kommen kann, uns dieses unerhörte Kunstwerk darzubieten. Seine Bedeutung liegt in der unglaublichen Sensibilität, der seltsamen Reinheit seines Stils. Das Erlebnis dieses Abends wird so fest in unserer Seele sein, daß der Name Reger immer wieder die Erinnerung an Rudolf Serkin wachrufen wird.«8 Doch sollen nur wenige Monate vergehen, bis der Schwäbische Kurier zu behaupten wagt: »Es war uns schon immer unverständlich, daß der Geiger Adolf Busch zu seinem ständigen Partner den Juden Rudolf Serkin auserkor, der zwar ein virtuoses Spiel vortrug, dem aber jede Wärme und Seele fehlte.«9
Mit Hitlers Wahl zum Reichskanzler setzt die systematische Verfolgung deutsch-jüdischer Mitbürger ein. Am 1. April 1933 betrifft der Aufruf zum »Judenboykott« wie ein Paukenschlag zunächst Geschäfte, Kanzleien, Banken und Arztpraxen; ihm folgt am 7. April die Ausgrenzung aller Juden vom Beamtenstatus. Für Adolf Busch gibt der Boykott den Ausschlag, eine Konzertreise mit seinem Quartett abzubrechen und den Veranstaltern am 4. April 1933 zu erklären: »die Aktion christlicher Landsleute gegen deutsche Juden, die darauf abzielen, Juden aus ihren Berufen zu verdrängen und sie ihrer Ehre zu berauben«, habe ihn ans Ende seiner psychischen und physischen Kräfte gebracht.10 Am 6. April wird Serkin ausgeladen, in Hamburg zum 100. Geburtstag von Brahms zu spielen, da »das Brahmsfest nur mit deutschstämmigen Künstlern besetzt werden darf.«11 Busch und sein Quartett dagegen sollen weiterhin dort auftreten, was dieser zurückweist: »Empört über Zumutung. Selbstverständlich spiele ich nicht. Busch.«12
»Der deutsche Geiger Adolf Busch hat wegen der Maßnahme gegen deutsche Juden und Kollegen seine Konzerttätigkeit in Deutschland bis auf weiteres eingestellt.«
Am 10. April folgt der Schlussstrich; Busch lässt durch die Schweizer Depeschenagentur verbreiten: »Der deutsche Geiger Adolf Busch hat wegen der Maßnahme gegen deutsche Juden und Kollegen seine Konzerttätigkeit in Deutschland bis auf weiteres eingestellt.«13 Der Schritt fordert wutschnaubende Reaktionen in der Presse heraus: »Der bekannte Geiger Adolf Busch hat sein semitenfreundliches Herz entdeckt u. Deutschland verlassen, weil er sich über die Maßnahmen gegen die deutschen Juden nicht beruhigen kann. Unsere hohen Gagen hat er bisher mit Freuden eingesteckt, und jetzt, da er dem Vaterland seine Dankbarkeit zeigen könnte, versagt er auf diese erbärmlich Weise. Er stellt sich damit in eine Reihe mit den Einstein und Ludwig Cohn, und wir werden ihn danach beurteilen.«14
Ihren gemeinsamen Wohnsitz behalten Buschs und Serkin in Basel-Riehen und erhalten dort 1935 bzw. 1937 die Schweizer Staatsbürgerschaft. Doch strecken sie frühzeitig ihre Fühler in die USA aus: Am 24. April 1933 gibt das Busch-Quartett seine erstes Konzert in New York, am nächsten Tag folgt der erste Sonatenabend des umjubelten Duos in der Library of Congress in Washington u. a. mit Regers Violinsonate e-moll op. 122. Und obwohl Serkins amerikanische Solistenkarriere 1936 mit Beethovens Konzerten unter Toscanini beginnt und vornehmlich auf phänomenalen Interpretation von Beethovens und Schuberts Werken fußt, hält er Reger die Treue: Bei seinem wichtigen Solistendebut in der Carnegie Hall am 11. Januar 1937 stehen die Bach-Variationen auf dem Programm, deren Wahl Serkin am 1. Januar 1937 Otto Grüters erklärt: »Die Konzerte und das Publikum sind bis jetzt sehr befriedigend. Sie lieben die Musik bei der sie sich anstrengen müssen (nicht nur der Künstler).«15
»Sie lieben die Musik bei der sie sich anstrengen müssen (nicht nur der Künstler).«
In der Carnegie Hall wird er das Werk noch drei weitere Male vor begeistertem Publikum spielen16 und am 16. November 1945 in Minneapolis unter DIMITRI MITROPOULOS die amerikanische Erstaufführung von Regers Klavierkonzert bringen.
ERIKA und KLAUS MANN berichten in Escape to life. Deutsche Kultur im Exil17 von einem Hauskonzert bei dem New Yorker Mediziner CARL MUSCHENHEIM, zu dessen Zuhörern JASCHA HEIFETZ, ARTURO TOSCANINI und der aus Princeton angereiste ALBERT EINSTEIN zählten. Das ungleiche Duo – »ein westfälischer Bauernjunge, wie ein Junge immer noch, obgleich er fünfzig Jahre alt sein muß – und der kleinere, schmale, dunkle Serkin«, sei »kein gefallsüchtiges Virtuosenpaar [...]. Hinter den ernsten Stirnen ist kein Gedanke auf den ’Erfolg‘, auf den ’Ruhm‘ gerichtet.«18 EINSTEIN habe ernst angemerkt:
»Das ist Deutschland, das ist das wahre und das beste Deutschland; was für ein Glück, daß wir es überall wiederfinden, wo solche Musik gemacht wird; und was für ein Beweis – wenn wir noch einen nötig hätten – gegen diese Rassenidiotie. Kann man sich ein schöneres Zusammenspiel, ein reineres Ineinanderaufgehen denken, als das, was diesen beiden, dem hellen und dem dunklen, dem ’Arier‘ und dem jungen Juden gegeben ist?«19
Nachdem Serkin eine Lehrtätigkeit am Curtis Institute of Music in Philadelphia angeboten worden war, emigriert die Familie Busch-Serkin 1939 nach Amerika. Die bald übertragene Leitung des Curtis Instituts behält Serkin bis 1976 bei.
Die Krönung der musikalischen Zusammenarbeit ist die Gründung des Marlboro Music Festivals mit Summer school, in einem kleinen Ort in der Nähe von Guilford im Bundesstaat Vermont, dem Wohnsitz der Familien, die hier idyllische Sommermonate verbracht und Ende des Krieges ein Grundstück erworben haben. In Marlboro, einem wahren Mekka für junge Musiker, wird seit dem Sommer 1951 das Interpretationsideal gleichberechtigten Zusammenspiels realisiert, an Kammermusikwerken mit eigener Physiognomie und Aussage, in deren Dienst sich exzellente erfahrene Interpreten mit jungen Instrumentalisten stellen, ohne Starallüren und autoritäre Unterrichtsstrukturen.
Nach Buschs frühem Tod 1952 ist Serkin 40 Jahre lang künstlerischer Leiter dieses Festivals, das sich wiederholt auch Regers Werk widmet: Seine in Marlboro mit Pina Carmirelli vorgestellte begeisternde Interpretation der Sonate c-moll op.139 ist auf Tonträger ebenso erhalten wie eine Aufführung der Klarinettensonate B-dur op. 107 mit David Singer, während sein Zusammenspiel mit Busch nur mit früheren Aufnahmen der Suite im alten Stil op. 93 sowie des Scherzo der Sonate fis-moll op. 84 (1931) dokumentiert ist. Zusammen mit Serkins legendären Einspielungen der Bach-Variationen (1984) und des Klavierkonzerts (1959) geben sie ein Bild, das mit den Worten des Musikkritikers Karl Schumann, damals Generalsekretär der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, in seiner Laudatio zur Verleihung des Ernst-von-Siemens-Musikpreis am 20. April 1979 vollkommen übereinstimmt: Er charakterisiert den Pianisten als Expressionisten aus der »Generation der musikalischen Präzisionsfanatiker« und betont sein Drängen »auf ein Maximum an Ausdruck, an Akzenten, Dynamik und Spannung«:
»Serkin liebt – gut expressionistisch – jene, die Unmögliches begehrten, Unbezwingbares häuften, weder dem Solisten noch dem Publikum Entgegenkommen zeigten. So ist er seit Jahrzehnten so ziemlich der einzige Pianist von Weltrang, der das über sämtliche Ufer tretende Klavierkonzert von Max Reger immer wieder aufführt, um sich an der äußersten Grenze der expressiven Möglichkeiten seines Instruments zu bewegen und um darzutun, welche geradezu vermessene Steigerung über Brahms hinaus das symphonische Konzert für Klavier und Orchester erfahren hat.«20
Nach Deutschland kehrt Serkin, seit 1948 amerikanischer Staatsbürger, erstmals im Mai 1957 zu einem Konzert in Düsseldorf zurück, weitere Auftritte folgten. Seine Frau Irene begleitete ihn in der Regel nicht: »Sie ist zu deutsch, um zu vergeben«, soll Serkin erkärt haben.21 Er selbst lehnte im Oktober 1974 die Verleihung des Großen Bundesverdienstkreuzes der Bundesrepublik ab, akzeptierte aber 1981 den Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste.
Eine große Ehre für das Max-Reger-Institut war es, dass er 1986 – im 70. Todesjahr Regers – , Mitglied seines Kuratoriums wurde, dem er bis zu seinem Tod im Mai 1991 angehörte.
Im November des Jahres beweist seine Witwe Irene Serkin, dass sie vergeben hat: Sie besucht das Bonner Max-Reger-Institut und schenkt ihm eine Sammlung von Reger-Briefen und Postkarten Max Regers an ihren Großvater, den Bonner Städtischen Musikdirektor Hugo Grüters. Die Schenkung bildet den Auftakt zu einer wertvollen Bereicherung des Aufgabenspektrums des Instituts: Durch die Überlassung der in Jahrzehnten von Wolfgang Burbach in Hilchenbach aufgebauten Sammlung des Brüder-Busch-Archivs – 1999 zunächst als Dauerleihgabe zur wissenschaftlicher Auswertung, 2003 als Zustiftung – sind Dokumente zum Wirken der Brüder und des in die Musikerfamilie integrierten Schwiegersohns und Duopartners Serkin reich vorhanden und fordern zur Erforschung auf.
Dass auch Hedwig Busch, die zweite Frau Adolfs, dem Max-Reger-Institut 1999 Reger-Briefe an Max Friedländer und 2003 und 2004 ausdrucksvolle Adolf-Busch-Gemälde der befreundeten Schweizer Maler Alfred Heinrich Pellegrini und Jean Jacques Lüscher überlässt, unterstreicht nicht nur ihre große Zustimmung zum Verbleib des Brüder-Busch-Archivs, sondern bestätigt auch die enge Verbindung zwischen Reger, seiner Interpreten-Familie und seinen Forschern.
Bis zum Schluss ist Serkin sich treu geblieben, wie Gerhard R. Kochs zum 80. Geburtstag verfasste Betrachtung eines feurigen Engels belegt, den der »feine Gelehrtenkopf«, »die schmächtige Gestalt und die rasende Attacke« faszinierten:
»Welch sprengende Gewalt Beethovens Crescendi und Sforzati, den Akkord-Entladungen bei Brahms und Reger [...] innewohnt, das vermittelte Serkin mit oft krasser Schärfe«; dabei sei er zugleich aber ein »unvergleichlicher Kantilenen- und Pianissimo-Künstler«.22
Genau diese Eigenschaften machen ihn zum idealen REGER-Interpreten und -Vermittler.
ELSA REGER (1870–1951), die Witwe des Komponisten MAX REGER (1873–1916), errichtete 1947 eine Stiftung mit dem Auftrag, den in alle Welt verteilten Nachlass ihres Mannes aufzuspüren und auf dieser Grundlage die Erforschung des Œuvres und den Diskurs mit REGER-Interpreten und Wissenschaftlern voranzutreiben. Einziges Stiftungsvermögen war nach dem Tod der Stifterin 1951 das Urheberrecht, dessen Früchte anfangs nur bescheiden flossen, da Aufführugen äußerst selten waren, mit wachsender Beachtung des Komponisten aber die finanzielle Grundlage zum Aufbau der Sammlung boten, die Notenmanuskripte und Erstdrucke, Briefe und Dokumente, Fotos und Bildnisse, Tonträger sowie die Internationale Literatur umfasst.
Als nach vier Jahrzehnten ausschließlich aus Eigenmitteln finanzierter und zum großen Teil auf ehrenamtlichem Engagement basierender Tätigkeit das Urheberrecht erlosch und damit die Tantiemen versiegten, erhielt das Max-Reger-Institut erstmals eine öffentliche Förderung, zunächst vom Land Nordrhein-Westfalen und der Stadt Bonn, seit 1996 vom Land Baden-Württemberg und der Stadt Karlsruhe.
Am neuen Standort mit örtlichen Kooperationspartnern wie der Musikhochschule und der Badischen Landesbibliothek, weltweit mit REGER-Interpreten und -Forschern verbunden, durch Langfristprojekte der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz sowie großzügige Spenden gefördert und als Mitglied des AsKI auch interdisziplinär vernetzt, arbeitet das Max-Reger-Institut als international gefragtes Kompetenzzentrum, das seine Forschungsergebnisse u. a. im REGER-Werkverzeichnis (2010) und seit 2008, als Pionier im Fach Musikwissenschaft, in einer hybriden REGER-Werkausgabe veröffentlicht, Tagungen ausrichtet, Dissertationen begleitet und REGERS Werk und farbige Persönlichkeit in Gesprächskonzerten und Ausstellungen vermittelt.
Dabei setzt es, schon lange vor der Corona-Krise, auf digitale Wege und macht im Online Max-Reger-Portal seine Sammlung und Resultate seiner wissenschaftlichen Arbeit für Experten und interessierte Musik-Liebhaber zugänglich. Unter https://maxreger.info findet sich hier eine Klanggalerie mit über 80 ausgewählten Einspielungen von Werken Regers, eine Bildergalerie und verschiedene Vermittlungsangebote zum Leben und Werk des Komponisten.
Im Bewusstsein, dass Musik erst im Augenblick ihres Erklingens lebendig wird, steht der Austausch mit Interpreten, wie schon bei MAX REGER selbst, im Zentrum der Institutsarbeit. Das spiegelt sich nicht zuletzt in der Besetzung des Kuratoriums, dem renommierte Musiker wie der Pianist RUDOLF SERKIN, der Cellist SIEGFRIED PALM, der Klarinettist WOLFGANG MEYER u.a. angehörten und in dem heute der Pianist MARKUS BECKER als stellvertretender Vorsitzender fungiert.
Eine große Bereicherung des Forschungsspektrums bedeutete daher 2003 die Zustiftung des über Jahrzehnte von WOLFGANG BURBACH aufgebauten Brüder-Busch-Archivs, das wichtige Dokumente zur Künstlerfamilie BUSCH enthält, deren berühmteste Repräsentanten der Dirigent FRITZ BUSCH und der Geiger ADOLF BUSCH sowie dessen Schwiegersohn RUDOLF SERKIN sind.
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Ein »Erinnerungsstück« von
Max-Reger-Institut / Elsa-Reger-Stiftung, Karlsruhe
www.max-reger-institut.de
Autorin: Prof. Dr. Susanne Popp, ehemalige Leiterin des Max-Reger-Instituts
Redaktionelle Bearbeitung und Gestaltung: Dr. Jessica Popp, AsKI e.V.
Videos und Digitalisate: David Koch, Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Max-Reger-Instituts
Techn. Bearbeitung von Bild-, Audio- und Videodateien: Franz Fechner, AsKI e.V.