»Gedichte sind für mich die Quintessenz meines Lebens, sind im Grunde mein eigentliches Leben.
Als Kind jüdischer Eltern 1924 im damaligen Pressburg geboren, gelang Tuvia Rübner 1941 als 16-Jährigem die Flucht nach Palästina. Alle Angehörigen wurden in Auschwitz ermordet. Im Kibbuz Merchavia begann er, Gedichte zu schreiben, zunächst auf Deutsch, ab 1954 auf Hebräisch, erst ab 1992 wieder auch auf Deutsch und setzte sich als Brückenbauer zwischen den Kulturen in Israel und Deutschland ein – schon in einer Zeit, als dies noch unmittelbar durch schwerste Verwundungen belastet war.
Für seine etwa zehn hebräischsprachigen Gedichtbände erhielt Rübner 2008 den Israel-Preis für Literatur, für seine elf deutschsprachigen Bände (die seit den 1990er Jahren im Aachener Rimbaud Verlag erschienen) erhielt er u. a. den Christian-Wagner-, den Paul-Celan-Preis und den Theodor-Kramer-Preis, außerdem den Konrad-Adenauer-Literaturpreis.
»Das Licht der Welt erblickte ich am 30. Januar 1924 in Bratislava, das auch Pozsony hieß und das wir Preßburg nannten. Neun Jahre war es für mich das Licht der Welt, vielleicht sogar etwas länger. Es verdunkelte sich, als man auch in Preßburg den Juden nachstellte und meine Schulfreunde mich plötzlich nicht mehr kannten.«
Tuvia Rübner, »Wüstenginster«, S. 65
Geboren als erstes Kind des jüdischen Ehepaars Manfred-Moritz Rübner und Elsa Grünwald-Rübner, besucht Kurt Tobias (Tuvia) Rübner bis zu seinem 14. Lebensjahr die Schule in Pressburg. Schon als Heranwachsender beginnt er, Gedichte zu schreiben. Nach der Annexion der Tschechoslowakei durch die Deutschen 1938 darf er das Staatsrealgymnasium nicht weiter besuchen. Dass er mit einer Jugendgruppe zu einem zweijährigen Aufenthalt nach Israel reist, rettet sein Leben.
»1941 nahm ich am Bahnhof Abschied von meinen Eltern und meiner Schwester. Damals blieb die Zeit stehen. Nein, sie blieb es nicht. Weder Schwester noch Eltern, weder Großeltern, weder Verwandte noch die meisten meiner Jugendfreunde habe ich wiedergesehen. Wir fuhren, eine kleine Gruppe aus der Jugendbewegung, über Ungarn, Rumänien, die Türkei, Syrien und Libanon nach Eretz Israel.«
Tuvia Rübner, »Wüstenginster«, S. 65
Im Kibbuz Merchavia, in dem Rübner Aufnahme findet, geht er zunächst vor allem landwirtschaftlichen Tätigkeiten nach – und fährt fort, Gedichte in deutscher Sprache zu schreiben. Von den Qualen, die dies für ihn bedeutete, berichtet er Erich Fried 1949 in einem Brief:
»Nun muss ich Dir aber vor allem etwas eingestehen: Ich schreibe Deutsch, weil mich diese Sprache beherrscht, weil ich nicht anders kann. Es ist dies eine Schwäche, aber eine so grosse, so unbedingte, dass sie zur Kraft wird, vielleicht zur eigentlichsten, entschiedensten. […] Wenn ich denke, dass ich Deutsch schreibe, so quält mich das insgeheim, nur wenn ich dichte, bin ich berauscht und fortgerissen.«
Rüber an Erich Fried, 2.4.1949
Über die Gedichte schließt Rübner auch erste Literatenfreundschaften in Israel, vor allem mit Ludwig Strauss und Werner Kraft, der den jungen Dichter entscheidend fördert:
»Ich habe, wenn ich das sagen darf, von Ihnen einen sehr guten menschlichen Eindruck und glaube auch, daß in Ihnen eine echte dichterische Kraft zum Ausdruck ringt. Ob Sie diesen Ausdruck schon heute oder noch nicht gefunden haben, das spielt für mich nicht die geringste Rolle und sollte auch für Sie keine spielen: nur wer eine lange Geduld hat, kann hoffen, einmal, und sei es auch erst in 20 Jahren, seine Mitmenschen von der Notwendigkeit dessen zu überzeugen, was er zu sagen hat. Inzwischen aber sollten Sie gleichzeitig mit Ihrem dichterischen Bemühen Ihre ganze geistige Kraft darauf konzentrieren, den Zusammenhang mit Ihren Mitmenschen zu finden, statt ihn zu sprengen.«
Kraft an Rübner, 25.9.1943
Später kommen weitere internationale Kontakte und Freundschaften mit Literaten und Dichtern hinzu: mit Josef Agnon oder Anton Pincas, die Rübner ins Deutsche übersetzt, Dan Pagis, Lea Goldberg, Oser Rabin, Martin Buber, Hans-Otto Horch, Friedrich Dürrenmatt und seiner Frau Lotti, Adolf Muschg, Lars Gustafsson, Nathalie Sarraute, Tomas Tranströmer, Frank Schablewski u.v.a.
»Selbst was wir Gegenwart nennen, ist Erinnerung, da alles Erlebte im Augenblick, wo es uns zu Bewusstsein kommt, wo wir es wissen, Erinnerung wird. Wirklichkeit ist, was wir nicht wissen.«
Die Korrespondenz des jungen Tuvia Rübner mit seiner in der Slowakei zurückgebliebenen Familie aus den Jahren 1941–42 ist erhalten (Rübner selbst zitiert sie in seiner Autobiographie). Der einzige erlaubte Postverkehr mit dem ‚Feindesland‘ waren damals die Briefformulare des Roten Kreuzes, die unverschlossen geschickt werden mussten und nicht mehr als 25 Worte persönlicher Nachrichten enthalten durften; bewilligt wurde ein Brief alle zwei Monate. 1942 liest Tuvia – als eine der letzten Nachrichten von seinem Vater: »Sind ausgesiedelt nach Generalgouvernem[en]t ehemaliges Polen. Neues Domizil erfahret durch Jüdische Selbsthilfe Krakau, Postfach Nr. 2 IL«. Der Rest des Briefes ist ausgeschnitten, von der Zensur getilgt. Im Yad Vaschem Archiv in Jerusalem findet sich die Eintragung, dass Rübner Moric, Rübnerova Alzbeta und Rübnerova Alica (Rübners Schwester Lizzie) mit Transport Nr. 46 am 12. VI. 1942 nach Auschwitz geschickt wurden.
Mein Vater wurde umgebracht.
Meine Mutter wurde umgebracht.
Meine Schwester wurde umgebracht.
Mein Großvater wurde umgebracht.
Meine Großmutter wurde umgebracht.
Meine Verwandten wurden umgebracht.
Freunde wurden umgebracht.
Ein Hund bellt. Ein Kind weint. Wind verfing sich im Laub.
Mein Onkel konnte sich retten.
Meine Tante konnte sich retten.
Ada verunglückte tödlich.
[…]
Nicht denken. Nicht denken.
Dan ist tot.
Was für Schreie da draußen?
Ein Polizeiwagen heult.
Meine Tante starb.
Werner starb. Aja starb.
Ein kleiner Gecko am Fensternetz.
Eva ist tot.
Ernst ist tot.
Oser ist tot.
Yehoshua ist tot.
Vergaß ich jemanden?
Ist die Reihenfolge nicht richtig?
Ich gehe zum Spiegel
und schaue.
Ich schließe die Augen.
Ich öffne die Augen.
Was stimmt nicht?
Eine Totenlitanei – die auch die teils harmlose, teils ebenfalls von Gewalt durchsetzte Gegenwart (bellender Hund, Wind, Gecko; Schreie draußen, Polizeiauto) mitumfasst: ein Leben im Spannungsfeld zweier Welten, der Toten und der Lebenden, bis der Sprecher zutiefst daran zweifelt, selbst noch vorhanden zu sein. Und dennoch ist gerade die Erinnerung an die Verlorenen die entscheidende Triebfeder des poetischen Zeugnisses und eine Quelle seines Lebenswillens.
»früher hing ich so wild am Leben, dass ich dachte, ich könne nicht sterben, weil ich zum Leben erkoren wurde, um meine Familie zu vertreten. Ein wahnsinniger Gedanke, und doch gab es ihn«
Nächtliches
Tappen, tappen, tappen, tappen
nach einem Wort so unverfälscht wie
das Stöbern im Müll nach Essbarem, Resten, so schonungslos wahr.Und über dem allen der höhnende Mond
verzogener Mund grinsend im Finstern.Leicht, ach wie leicht waren die Lüfte
noch ohne Verluste, Verluste, Verluste,
immer wieder herzlos verloren, und was soll
all die Lust im Verlust? Qual und Lust,
ist’s möglich? Schmerzfroh entkommen und dasein,
ist’s möglich?und schlafen, noch möglich zu schlafen
mit all dem? Wie tröstlich war doch
in uralten Zeiten das Müde bin ich, geh zur RuhVater, auglos.
Rauchiger, Aschiger,
verschüttet im Aschsee in Ausch.
Ein Grab in den Lüften, Rauch, Asche – obsessiv wiederkehrende Motive, nicht nur in Rübners Lyrik.
»Dieses Land rettete mein Leben. Seine Landschaft, die mich begrüsste, war nicht die Landschaft meiner Seele. Meine Seelenlandschaft ist Wiese und Wald, Bäche, Berge, ein Fluss, karpatisch. […] entgegenkommend war diese Landschaft so wenig wie die Menschen, die sie bevölkerten«.
(in: »Ein langes kurzes Leben«, S. 91)
Die politische und kriegerische Realität auch in seiner neuen Heimat tut das ihrige, um den empfänglichen Dichter weiter zu verstören; er und Werner Kraft bezeichnen das Geschehen von Gewalt – in Vergangenheit und Gegenwart – wiederholt als »Wahnsinn«. In einer seiner Gedicht-Sektionen mit dem Titel: »Ungereimte Reime aus dem dreißigjährigen Krieg« evoziert er – in einer Art verzweifeltem Sarkasmus – Abzählreime.
Ich und du
Ich und du
Fleischers Kuh
Fleischers Schlachtvieh
Ich und du.Du und Ich
Schauerlich
So’n Scheusal
Gab’s noch nicht.Eins, zwei, drei
Wieder die Schießerei
Da liegt ja einer schon:
Na ja, ist nur des Nachbars Sohn.
Persönlich ereilen ihn weitere Schicksalsschläge: Seine Frau Ada, die er 1944 geheiratet hat, kommt 1950 bei einem Verkehrsunfall ums Leben, den er selbst nur schwer verletzt überlebt. Nun muss er die gemeinsame Tochter Miriam allein aufziehen. Da er nicht mehr in der Landwirtschaft tätig sein kann, arbeitet er zunächst als Bibliothekar, dann als Literaturlehrer an einem Lehrerseminar und wird schließlich Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Haifa (bis zu seiner Emeritierung 1992). Mit der Konzertpianistin Galila Jisreeli, die er 1953 heiratet, hat er zwei Söhne, Idan und Moran. Moran bleibt seit einer Südamerikareise 1983 spurlos verschwunden.
Die Woche begann
Die Woche begann wie immer.
Im Morgengrauen wurde die Zeitung vors Haus geworfen.
Die Hundekette schliff über den Boden.
Fahrzeuge begannen zu fahren.
Die Luft war dunstig. Das wird ein heißer Tag.
Der Mann trank den Morgenkaffee zu Ende und fuhr in sein Amt.
Die Luftverschmutzung verschleierte die Berge.
Die Frau reinigte mit müden Augen den Frühstückstisch.
Sammelte die Wäsche. Der Hund wimmerte.
Ein Tränenhaupt blickt durchs Fenster:
Kein Wo-noch mehr. Verschollen, verschollen.
Die Frau versteint. Eine Grube höhlt sich ihr im Bauch.
»Der Verlust unseres Sohnes Moran, sein spurloses Verschwinden, und noch so eine Hölle drei Jahre später, betäubten mich wie ein Rind in der Schlachtbank. Es waren zehn Schweigejahre, nur einmal unterbrochen von elf Gedichten über und an den Sohn […]. Auch mein Körper schien der Lage nicht gewachsen zu sein. Wissen kann man das ja nicht. Wissen wird immer schwieriger. Manchmal ist schon ein einfacher Aussagesatz eine Unmöglichkeit. Dennoch schreibe ich nieder: Angina pectoris wurde konstatiert und zwei Operationen hatte ich zu bestehen, eine davon ziemlich kompliziert.«
(in: »Ein langes kurzes Leben«, S. 164)
Auch zu Musik, Malerei und Bildender Kunst unterhält der Dichter Rübner ein emotionales Näheverhältnis. Das Klavierspiel Galila Rübners erscheint in den Gedichten als leuchtendes Faszinosum, und immer wieder wendet er sich Gemälden zu und macht sie zu Reflexionsmedien sowohl seiner eigenen Subjektivität als auch existentieller überindividueller Fragen. Die Werke werden ihm zum gedanklichen Halt, an dem er sein poetisches und menschliches Credo – eines Glaubens an den Wert des Menschlichen und des Schönen – entwickelt, als »Lobgesang dem Dasein«.
Spätes Lob der Schönheit
Tiefes Ultramarin.
Und wenn das Licht es will enthüllt sich
sein Geheimnis: Violett.
Ich ging an ihm vorbei und
kehrte um Ich ging an ihm
vorbei und kehrte um
– Was, in meinem Alter? –
Jetzt hängt in meinem Zimmer
blaue Nacht und steinernes
Feuer sinkender – nein
nichtsinkender Sonne am
schlummernden Horizont –Marcus Rotkovitch aus Dvinsk
seit 1914 in den USA.
Mark Rothko
malte früher anders:
figurativ, mit vielen Strichenbis er herausfand
das Wenige ist
mehr und wußte
nichts ist schwieriger
als das Einfache
Und alle Farben des Regenbogens
und die Farben dazwischen
sind das Leben.
Und wie der Herbst in Vermont
sammelte er, ehe sie ganz abhanden kommen
die Farben von vierzig Geschlechtern
und legte sie Schicht um Schicht
Grade über Grade
Senkrechtes – Seele des Waagrechten
und wie das Laub im Abendwind
rauschen die Stimmen
fast lautlos
und sagen sich dieses und jenes
und alle die Farben erglühen
Abtönungen des Roten, des Gelben
des Braunen, des Blauen, des Orangen
und Grünen –
welch Lobgesang dem Dasein
von einem, der seine Adern durchschnitt und
alle Farben seines Körpers verschüttete
ein weißer Schatten wurde.
Als Abgesandter der Jewish Agency verbringt Rübner die Jahre 1963–66 in der Schweiz, und schließt hier u. a. enge Freundschaft mit Friedrich Dürrenmatt und seiner Frau Lotti. Auch später führen ihn immer wieder ausgedehnte Reisen nach Europa, nicht nur in seine vormalige Heimat, sondern auch in geliebte italienische Städte. Doch wohin immer er reist, die Traumata seiner Vergangenheit und das bohrende Nachdenken über ethische oder anthropologische Grundfragen bleiben gegenwärtig. Licht und Schatten – und wie sie sich paaren oder verbinden – bleiben metaphorisch oder real ein Grundthema seines Schaffens.
»Florenz auf einer Postkarte, das ist ja wie der Ozean in einem Wasserglas.«
Der Dichter erweist sich dabei einerseits literarisch als poeta doctus, der auf Goethe, Hölderlin, Nietzsche, Rilke, Stefan George u.v.a. Bezug nimmt, und andererseits als ein ‚Mann des Auges‘, der Erlebnisse visuell äußerst plastisch beschreibt und sich auch als äußerst begabter Fotograf betätigt.
Ansichtskarte aus Florenz
Freundliche Grüße aus Florenz. Was ist die Kunst doch ein Magnet.
Zwischen Japanern und Chinesen, Deutschen, Franzosen, Russen, Finnen Ungarn, Griechen zu
Giotto
und Ghiberti, Massacio, Michelangelo, zu Donatello und Angelico
zu den gezuckerten kristallenen Früchten auf kleinen Stäbchen aufgespießt
zu den Gelati in hundert Farben und Geschmäckern
zum Baptisterium mit seinen goldenen Reliefs zum Dom
und Dommuseum mit der Pieta zu drei, zum David, groß wie Goliath
wehmütig stolz (da ist der Donatellos schriftgerechter)
zum Schlange stehen vor den Uffizien (vielleicht wird man noch
heute durchgeschleust), zu, zu, zu, mein Gott
Florenz auf einer Postkarte, das ist ja wie der Ozean in einem Wasserglas.
Aber was täten wir ohne das Schöne?
Ließen die Meere verseuchen, die Ur- und Regenwälder fällen
die Luft verpesten, morden aus Irrsinn oder Spaß?
Was täten wir ohne das Schöne in dieser habgierigen, schamlosen Welt?
So vieles unerwähnt: Der herzliebe Gozzoli im Medicihaus
gleich neben den Gräbern. Die Fresken des Engels aus Fiesole
der tote Christus Mantegnas, verkürzt, ein starkes Bild, zum Teufel
der ist ja in Mailand, ich bin müde, was täten wir ohne das Schöne
Schönheit ermüdet, will dich ganz und gar, Schatztruhe Florenz
eine ermüdende Stadt im goldenen Toskanalicht, ach, meine müden verschleierten
Greisenaugen, sag, wo bin ich?
Wo bin ich eigentlich?
Auch seiner Muttersprache bleibt er weiterhin verbunden, überträgt Goethe, Celan und Kafka ins Iwrit und Josef Agnon, Dan Pagis oder Anton Pincas ins Deutsche. Seine eigenen Gedichte – für die er sich in den 1950er-Jahre das Iwrit als neues Sprachmedium aneignet – werden von dem Dichter Christoph Meckel und der Übersetzerin Efrat Gal-Ed ins Deutsche übersetzt. Ab 1990 erscheint sein lyrisches Werk in Deutschland, seit 1995 als Werkausgabe im Aachener Rimbaud Verlag. Ebenfalls ab den 1990er-Jahren kehrt Rübner selbst zum Schreiben deutscher Gedichte zurück.
»Daraus, dass Rübner extreme Gegensätze, wie das Verhältnis von Glück und Unglück, von Rettung und Vernichtung, erfasst und diese in ebenso anspruchsvoller wie ansprechender Manier gestaltet, resultiert die außergewöhnliche Qualität seiner Lyrik.«
Dank der deutschen Gedichtbände und durch die entsprechenden Lesereisen entstehen für Rübner ab den 1990er-Jahren auch neue und enge Freundschaften in Deutschland. 1991 wird er erstmals zu einer Lesung nach München eingeladen, in eine erst seit Kurzem bestehende Buchhandlung, aus der später eine Stiftung hervorgehen wird: Das Lyrik Kabinett.
»Ursula Haeusgen, Initiatorin und Mentorin des Lyrik Kabinetts, von echter Liebe zur Poesie beseelt, und deren Haus ein Zuhause ist, und Karl Neuwirth in München, der mehr weiss, als er ahnen lässt […]. Bei diesen allen fühlen wir uns, meine Frau und ich, wie daheim.«
(in: »Ein langes kurzes Leben«, S. 174)
Fünf Jahre später erhält er ein zweimonatiges Aufenthaltsstipendium im Künstlerhaus Villa Waldberta im Süden Münchens. In jener Zeit wird auch Haeusgens Domizil Gegenstand eines seiner Gedichte.
Ansichtskarte: München Kaiserstraße 8
Zwischen den Bildern
Prem, Dürer, Chillida, Mondrian
unter den fünf chinesischen Figuren
mit den Büchern in den weißen Regalen
zwei Wände entlang bis hinauf
im scharfen Licht der Stehlampe
in der Zeit aus der Zeit
die Frau blickt
verirrt in Gedanken
aus blau verblaßten
Sonnenaugen
der Tod gestern, plötzlich
»Jeder Tod ist plötzlich«
wie ein Schlag auf den Schädel
in der Zeit aus der Zeit
der Koffer ist gepackt
morgen fahre ich weiter
kehre zurück
durch das schwere Tor
mit unsicherem Schritt
zu den Buchstaben, zum Papier
weißer im Licht des Regens
»Ich freue mich und fühle mich geehrt, dass ich wieder hier sein darf. Mein besonderer Dank gilt Ursula Haeusgen. [...] Was langjährige Freundschaft in dieser gehetzten Welt bedeutet, weiß jeder, der sie erlebt hat.«
Diesen scheinbar schwerelos hingesagten Worten Rübners, mit denen er 2008 eine Lesung im Lyrik Kabinett eröffnet, ist die bei ihm häufige Vielschichtigkeit eigen: Denn die »gehetzte Zeit«, die er in seinen Gedichten oft erwähnt und bedenkt, ruft auch die existentielle Situation des Gejagt- und Vertriebenwerdens auf.
In seinen letzten Lebensjahren vertraut Rübner der Stiftung Lyrik Kabinett ein sehr persönliches und zugleich zeit- und literaturgeschichtlich wertvolles Dokument an: seinen Briefwechsel mit dem ebenfalls emigrierten Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Werner Kraft (1943–1987). Die Korrespondenz ist ein eindrucksvolles Beispiel für jene »kulturelle Exterritorialität« eines Teils der deutschen Literatur (Andreas Kilcher), die durch Flucht und Vertreibung deutschsprachiger jüdischer Autoren im 20. Jahrhundert herbeigeführt wurde. Rübner wünscht sich, dass gerade das Lyrik Kabinett den Briefwechsel publiziren sollte – und es ist ihm eine wichtige Freude seiner letzten Jahre, dass sich die Stiftung dieser Aufgabe, in Kooperation mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, annimmt.
»Genügte mir die Sprache nicht? Weshalb muß ich mir auch heute immer wieder sagen, Gedichte seien vom Anständigsten, was es noch gibt, und Sprache sei die beste aller menschlichen Welten, wenn auch noch nicht die gute?«
Tuvia Rübner starb am 29. Juli 2019 im Alter von 95 Jahren in seinem Kibbuz in Merchavia. Zu seinem Tod schrieb Staatspräsident Reuven Rivlin:
»Mit Trauer habe ich vom Tod des Dichters Tuvia Rübner gehört. Er ist ein einzigartiger Teil einer Generation von Dichtern, die nicht ins Hebräische geboren wurden, sondern diese Sprache nach ihrer Einwanderung nach Israel wählten. Dichter, 'deren Wurzeln', wie Lea Goldberg sagt, 'in zwei verschiedenen Landschaften liegen‘. [...] Möge seine Erinnerung ein Segen sein.«
(Rueven Rivlin auf der Website der Botschaft des Staates Israel)
Der Regisseur Henning Backhaus und sein Kameramann Georg Geutebrueck haben Rübner im Kibbuz Merchavia besucht und auf einer Reise nach Deutschland begleitet: eine eindrucksvolle Dokumentation über einen großen deutschen Dichter in seinen späten Jahren.
»Tuvia Rübners Leben ist ein fortwährender Umgang mit schweren Verlusten. Sein neugieriger, unprätentiöser Blick ist der eines Menschen, der mit dem Leben nie fertig sein wird, im Guten wie im Schlechten.«
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Ein »Erinnerungsstück« von
Stiftung Lyrik Kabinett, München
www.lyrik-kabinett.de
Autorin: Dr. Pia-Elisabeth Leuschner, Presse / Programmassistenz, Stiftung Lyrik Kabinett, München
Gestaltung und redaktionelle Bearbeitung: Dr. Jessica Popp, AsKI e.V.
Techn. Bearbeitung von Bild-, Audio- und Videodateien: Franz Fechner, AsKI e.V.
Die Stiftung Lyrik Kabinett, München
Die Stiftung Lyrik Kabinett unterhält die zweitgrößte auf Lyrik spezialisierte Bibliothek Europas mit aktuell ca. 65.000 Medien und richtet regelmäßig Veranstaltungen zur internationalen Lyrik aus (bislang ca. 1.300). In verschiedenen Reihen publiziert die Stiftung ausgewählte poetische oder poetologische Werke und eröffnet mit dem seit über einem Jahrzehnt erfolgreichen pädagogischen Modellprojekt »Lust auf Lyrik« Schulklassen einen kreativen Zugang zur Poesie. Darüber hinaus unterstützt das Lyrik Kabinett die Begegnungen von Dichtern und Initiativen der freien Szene und engagiert sich in Kooperationen zur Literaturförderung.
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