Stefan Moses
1928–2018

Auge und Linse

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Die Welt ist Bühne. Die Posen mußten aber aufgelöst werden.

Stefan Moses

Während seiner langen Tätigkeit als Fotograf hat sich Stefan Moses mit zahlreichen Fotografien in unser Bildgedächtnis eingeschrieben. In dialektischem Wechselspiel vermitteln seine Motive Perspektiven eines gesellschaftlichen Weitwinkels mit detailreichen Nahaufnahmen der von ihm Porträtierten.

Immer wieder geht Stefan Moses auf Reisen. Als Requisiten seiner Wanderbühne dienen schon früh ein quadratisches graues Filztuch, der Spiegel eines Konfektionshauses oder alte knorrige Bäume im Wald. Bis in unsere Gegenwart schreiben Ausstellungen und Fotobände die von ihm aufgefundenen Stoffe und Erzählungen fort.

Der kommende Fotograf als Sohn

Stefan Moses wird am 29. August 1928 im niederschlesischen Liegnitz (heute Legnica in Polen) geboren. Sein Vater Kurt Moses (17.08.1900 bis 11.08.1932) ist Jurist und für einen Textilkonzern tätig. Er scheint mit Leidenschaft fotografiert und sich eine beeindruckende Fotoausrüstung zugelegt zu haben, doch noch vor dem vierten Geburtstag seines Sohnes verunglückt der Vater am 11. August 1932 tödlich bei einem Unfall im Paddelboot auf der Oder.

Bewusst oder unbewusst: dieser tragische Verlust und die Entdeckung der eigenen Berufung fallen in der Erinnerung von Stefan Moses zusammen. Denn der Sohn nimmt die durch den Vater gelegte Fährte des Fotografierens bereits im Grundschulalter auf und wird dieser ein Leben lang beharrlich folgen. Auf die im Interview der Jüdischen Allgemeinen gestellte Frage, ob er sich an sein erstes veröffentlichtes Foto erinnere, antwortet Stefan Moses am 22. Januar 2007: »ja: 7 schlafende tigerkatzenkinder im kinderzimmerbett 1935«.

»Vier Jahre nach dem Tod seines Vaters entdeckte er in dessen altem Arbeitsschrank eine Bergheilkamera […]. Seit dieser Zeit versuchte er ›Lichtbilder‹ zu sehen und aufzuzeichnen und später wurde es sein Beruf.«

Stefan Moses

Der genaue Ort der Entdeckung der Kamera – Arbeitsschrank, Bibliothek –, die Herstellermarke der ersten Apparate und die fotografierten Motive variieren in manchen Dokumenten. Doch wichtiger als solche Aspekte dürfte der Umstand sein, dass es sich bei Kamera und Foto-Passion um das Erbe des viel zu früh verlorenen Vaters handelt. In einem biografischen Steckbrief für den Band »Transsibirische Eisenbahn. Sechsundzwanzig Photogeschichten« gibt Stefan Moses Details dieser Entdeckung preis: »1936 entdeckt der Achtjährige in der hinterlassenen Bibliothek seines Vaters viele Schachteln mit Glas­negativen, Albuminpapieren und eine Plattenkamera und wunderbare Alben voll von Photos. Erste Versuche mit der ererbten Kamera an der Hauskatze in Liegnitz-Schlesien.«

Ein anderer Text begreift das Auffinden der Kamera im Nachlass als Initiationsereignis des künstlerischen Sehens: »Vier Jahre nach dem Tod seines Vaters entdeckte er in dessen altem Arbeitsschrank eine Bergheilkamera […]. Seit dieser Zeit versuchte er ›Lichtbilder‹ zu sehen und aufzuzeichnen und später wurde es sein Beruf.« Jenes beiläufig klingende »und später« markiert eine narrative Leerstelle von historischem Ausmaß. Denn infolge der NS-Rassengesetzgebung gewinnt die jüdische Religions­zugehörigkeit seines verstorbenen Vaters, die im Alltag der dreiköpfigen Kleinfamilie offenbar im Hintergrund gestanden hat, zusehends an Bedeutung. Trotz ihres zum Aufbruch ins Exil drängenden Umfelds betrachtet die Mutter Käte Moses [geb. Weiss, 30.09.1902. in Breslau] ihren minderjährigen Sohn, der schließlich nach der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz als »jüdischer Mischling« verfolgt wird, irrtümlich als hinreichend geschützt.

Wohl nicht zufällig spielt in der Schilderung der ersten fotografischen Unternehmungen immer wieder der häusliche Dachboden eine Rolle. Auf der Jagd nach den ersten Fotos kommt Stefan Moses hier einer auf Mäuse lauernden roten Katze auf die Schliche, doch in den Jahren nach dem Regierungsantritt der Nationalsozialisten eignet diesem Ort kindlicher Heterotopien gesellschaftspolitische Signifikanz: Der Dachboden wird zu einem Ort, der dem Zugriff der Aggressoren entzogen scheint.

»Einige Daten«, maschinenschriftlicher Entwurf eines Klappentextes
»Einige Daten«, maschinenschriftlicher Entwurf eines Klappentextes / © DKA, NL Moses, Stefan, 175, © archiv stefan moses

Stefan Mosesʼ vorzeitige und unfreiwillige Entlassung aus der Schule, der Tod seiner jüdischen Großmutter Lucie Moses im September 1939, die Emigration seines Onkels Heine und dessen Frau Erna 1936, die Flucht seiner Tante Ruth, deren in Breslau zurückgelassener Sohn Wolfgang – sein Cousin – deportiert und schließlich in Auschwitz ermordet wird: diese Erfahrungen bilden die individuelle Signatur seines Überlebens im Umfeld des Holocausts.

Schuljahre

»Sein geistiges Streben, seine Zuverlässigkeit und sein Fleiss werden anerkannt.«

Schulabgangszeugnis Stefan Moses

Aus Stefan Moses' Schulzeit ist nur wenig überliefert. Seine Internierung und mehrere aufeinanderfolgende Fluchten haben auch in dieser Hinsicht Leerstellen hinterlassen. Eine Schlüsselstellung besitzen daher zwei erhalten gebliebene Dokumente: eine handschriftliche schulische Beurteilung aus Liegnitz und ein Schul­abgangs­zeugnis aus Breslau. Das Archivale vom 27. Oktober 1938 aus Liegnitz, das dem Schüler »keine charakterlichen Bedenken« attestiert, gleicht eher einer Notiz, festgehalten lediglich auf einem Papierabschnitt. Die am unteren Blattrand platzierten Unterschriften sowohl des Schulrektors als auch des Klassenlehrers und der mittig gesetzte amtliche Stempel scheinen das Provisorische des verwendeten Karopapiers zu konterkarieren. In zeitlicher Nähe zum Novemberpogrom 1938, der auch in Liegnitz zu Verhaftungen und Verschleppungen führt, ziehen Mutter und Sohn nach Breslau.

Die nächste Schule, das Breslauer Zwinger-Gymnasium, das sich bereit erklärt, Stefan Moses aufzunehmen, wird den Schüler weit vor der Zeit seines Abiturs 1943 auf Anordnung der Behörde entlassen. Diese Entscheidung sei, so Stefan Moses im Klappentext des Fotobuchs »Transsibirische Eisenbahn«, »auf Wunsch des Gauleiters Hanke« geschehen. Der explizit genannte Karl Hanke (1903–1945) zählt im »Dritten Reich« zu den Mächtigen, in den letzten Tagen des NS-Regimes  wird Adolf Hitler ihn als Nachfolger Heinrich Himmlers zum letzten Reichsführer SS ernennen. Im Jahr 1941 ist er Oberpräsident und Gauleiter von Niederschlesien. Stefan Moses hebt seinen Namen nicht ohne Grund hervor: Denn während der Amtszeit Hankes werden so viele Menschen hingerichtet, dass ihm dies den Beinamen »Henker von Breslau« einträgt.

Klassenfoto der Sexta im Breslauer »Zwinger-Gymnasium«. Stefan Moses ist in der zweiten Reihe der zweite Junge von rechts. Die Bildrückseite weist einen weiteren Jungen der Klasse in einfachen Anführungsstrichen als Mischling aus.
Klassenfoto der Sexta im Breslauer »Zwinger-Gymnasium«. Stefan Moses ist in der zweiten Reihe der zweite Junge von rechts. Die Bildrückseite weist einen weiteren Jungen der Klasse in einfachen Anführungsstrichen als Mischling aus. / © DKA, NL Moses, Stefan, 40, © archiv stefan moses

Von den Konsequenzen der nationalsozialistischen Gesetzgebung zeugt ein zweites Dokument: Stefan Moses Schulabgangszeugnis. Festgehalten sind die Noten von Weihnachten 1942 in einer Abschrift vom 27. Februar des darauffolgenden Jahres. Dieses Zeugnis enthält überwiegend gute Leistungen. Ein kleiner »Ausrutscher« nach unten ist das »ausreichend« im Fach Leibeserziehung. Eine den Zensuren voran­gestellte allgemeine Bemerkung gibt in ihrer Lakonie durch nichts zu erkennen, dass der Schüler einen Sonderstatus an dieser Schule, die zeitgleich auch andere verfolgte Kinder in ihren Reihen integriert, besitzt: »Sein geistiges Streben, seine Zuverlässigkeit und sein Fleiss werden anerkannt.«

Die Stempel beider das Ende der schulischen Laufbahn unterstreichenden Dokumente tragen das Symbol des Reichsadlers mit Hakenkreuz. Hinsichtlich ihres Erhaltungszustands erscheinen sie versehrt und wohlgehütet zugleich: Ihre Knick- und Gebrauchsspuren sprechen davon, dass sie gemeinsam in einer Brieftasche oder einem Kuvert aufbewahrt worden sein könnten. Ob Stefan Moses selbst sie ver­wahren konnte oder ob sie, was wahrscheinlicher sein dürfte, zwischenzeitlich bei seiner Mutter verblieben sind, um in deren Reisegepäck die Stationen ihrer Flucht anzutreten, könnte ihr Geheimnis bleiben.

Lehrjahre, Zwangsarbeit

Als Stefan Moses das Realgymnasium am Zwinger in Breslau verlassen muss, erhält er eine Anstellung als Gehilfe in einem Breslauer Fotoatelier. Ein Schreiben vom 28. Oktober 1993 erhellt die Hintergründe: »hier gibt es keinerlei Unklarheit! Nocheinmal: 1943 wurde ich durch die Gesetze der Nazis im Hitlerreich vom Gymnasium geworfen. und gleich anschliessend zwangs­ver­pflichtet zur Arbeit in einer Munitionsfabrik. Durch Mithilfe einer antifaschistisch eingestellten Familie gelang es meiner Mutter mich als Lehrling bei der ebenfalls im Fotogrossbetrieb Fa. Bittner Breslau arbeitenden Photographenmeisterin Grete Dau-Bodlee unterzubringen. Die Zwangsarbeitsverpflichtung wurde von der Fa. Bittner den Ämtern gegenüber offiziell gewahrt.«

Dieser Hilfstätigkeit im Fotostudio, so prekär die Rahmenbedingungen gewesen sind, kommt bio­gra­fisch eine Schlüsselrolle zu, wie Stefan Moses 72 Jahre später im Interview mit Marianne Sperb betont: »1943, Glück im Unglück, konnte ich vor dem Zwangsarbeiterlager Ostlinde noch ein Jahr bei der berühmten schlesischen Kinderfotografin Grete Bodlée lernen, mit zwei Leicas – und mit vielen wunder­baren Kindern in den alten Atelierstuben in Breslau.« 

Seinerseits den Kinderschuhen noch nicht völlig entwachsen, begegnet Stefan Moses der Fotografin Margarete Dau, die im Atelier Bittner die Anfertigung der Kinderfotos übertragen bekommen hat. Stefan Moses wird sie später – vielleicht nach der Kurzform des Namens Margarete und ihrem Geburts­namen – stets als »Grete Bodlée« bezeichnen. Wie dem erst nach Kriegsende geschlossenen Ausbildungsvertrag und einer ausführlichen Stellungnahme zur Begründung einer Lehrzeitverkürzung zu entnehmen ist, hat Margarete Dau ihre Meisterprüfung noch am 15. April 1941 in Breslau abgelegt. Auch sie sei, so Christoph Stölzl in seinem einleitenden Essay zu »stefan moses. deutschlands emigranten« als »Mischling« verfolgt worden, deren Mutter nach Theresienstadt deportiert worden ist.1 Margarete Daus Stellungnahme zum Ausbildungsweg von Stefan Moses, die auf der Vertragsrückseite handschriftlich niedergeschrieben ist, erweist sich als eine wichtige Auskunft über Stefan Moses' inoffiziell aufgenommenen Ausbildungsweg.

»Der Lehrling ist anerkanntes Opfer des Faschismus und hat infolge der Nürnberger Gesetze während der Nazizeit keine ordnungsmäßige Lehre beginnen können, hat aber als Volontär vom 3.4.43 bis 10.8.44 bei Photo Bittner, Breslau unter meiner Anleitung gearbeitet. Vom 10.8.44 bis 12.2.45 war er im Zwangsarbeitslager. Sofort nach dem Einmarsch der roten Armee, vom 15.5.45 bis 1.12.45 hat er in Hirschberg, Atelier Hiller-Welzel wieder photographisch gearbeitet. Vom 1.12.45 bis 31.1.46 bei Foto-Kühn, Erfurt. 2 Jahre dieser Zeit werden ihm auf die Lehrzeit angerechnet, sodaß diese am 31.1.47 beendet ist. Margarete Dau Photographiemeisterin« 

Es mag vor der Trennung von Fotografin und Schüler im August 1944, als man Stefan Moses zwangs­ver­pflichtet, eine Übereinkunft zur Fortsetzung der beruflichen Anfänge gegeben haben – so gering die Aussicht auf ein Wiedersehen, geschweige denn die tatsächliche Verwirklichung des Berufswunschs gewesen sein müssen. Obwohl sich ein Ende des NS-Regimes in diesem Zeitraum abzuzeichnen beginnt – im Juli zuvor ist das Vernichtungslager Lublin-Majdanek von der SS aufgelöst und im selben Monat die sogenannte Zweite Front gegen die deutsche Wehrmacht eröffnet worden –, muss die Vision eines selbstbestimmten Lebens weit fernab des Wahrscheinlichen gelegen haben.

Die im Rahmen des sogenannten Unternehmens Barthold auszuhebenden Panzergräben, deren Bau im August 1944 beginnt, als man Stefan Moses zur Zwangsarbeit verpflichtet, sind als Verteidigungslinie im Großraum Breslau zur Abwehr der russischen Armee gedacht.

»das ganze jahr im morast stehend schaufelten, hoben wir (180 mann und vom ›frauenlager‹ 150 frauen) gräben aus, in die nach der logistik des OBERKOMMANDOS der WEHRMACHT die erwarteten sowjettanks stürzen sollten...«
Stefan Moses

Fluchten

Stefan Moses beschreibt die Zeit der Zwangsarbeit und die anschließende Flucht aus Anlass des 60-jährigen Kriegsendes in einem Text für den Münchner Merkur 2005. Dass die Flucht aus dem Lager gelingt und nicht mit der Todesstrafe endet, dass Stefan Moses zunächst Mutter und Tante, schließlich auch seine Ausbilderin wiedertrifft, nimmt sich wie ein Wunder aus, als eine Verkettung von Glücksfällen.

Über die Ängste und traumatischen Ereignisse, Wünsche und Hoffnungen des Sechzehnjährigen, über die Frage nach dem Warum des eigenen Überlebens im Angesicht vieler Millionen Todesopfer bewahrt diese Aufzählung Schweigen. Wie gefährlich die Situation in Hirschberg (heute Jelenia Góra) vor der Kapitulation Deutschlands gewesen sein muss, erhellt der Umstand, dass in diesen letzten Kriegs­mo­naten, zwischen Februar und Mai 1945, im Hirschberger Landgerichtsgefängnis Gefangene des Nacht-und-Nebel-Erlasses inhaftiert sind.

Eindrucksvoll berichtet Stefan Moses vom Wiedersehen mit der Mutter in Hirschberg, von seiner Tätig­keit als Filmvorführer im dortigen Kino noch vor der Kapitulation Deutschlands sowie der Eroberung des Städtchens im Riesengebirge durch die russische Armee. Die Mutter habe er im winzigen Häuschen der Tante wiedergetroffen – gemäß einer vor der Trennung wider bessere Vernunft getroffenen Verab­redung. Als apokalyptisch erfährt er die darauffolgende Nacht, in der die von ihm auf dem Dach­boden versteckten Frauen gefunden und vergewaltigt werden, ohne dass er, der Jugendliche, etwas entgegenzusetzen hat.

Regelrecht wie ein Wunder mutet daher die Begegnung mit einem Soldaten namens Yakov Zejlik an, der den Bewohnern des kleinen Häuschens einen »schutzpropusk« verschafft und von Stefan Moses als »Schutzengel« bezeichnet wird. Dieses an die Haustür genagelte Schreiben habe die Bewohner vor Raub und weiterer Gewalt bewahrt. Nicht zufällig erinnert die Erzählung an die Kennzeichnung der Türrahmen, wie sie die Israeliten beim Auszug aus Ägypten zur Zeit seines Namensvaters Moses bewahrt hat.

Reiseziel Deutschland

»Mein Leben ist eine Reise in Bildern und die Reise führte nach Deutschland.«

Stefan Moses

Obwohl Stefan Moses nach Kriegsende auch andere Türen offen stehen, entschließt er sich nach seiner Flucht nach Thüringen, in Deutschland zu bleiben. Gerade die Erfahrungen der Verfolgung sind es, die sein menschliches Auge und die Linse der Kamerakunst fortan mit regieren. Und genau hierin liegt der leicht zu übersehender Grund seiner lebenslangen Beschäftigung mit Deutschland und »den Deutschen«. Diese spiegelt sich wider in zahlreichen Fotografien und Ausstellungen vom Fotobildbuch »Deutsche – Porträts der sechziger Jahre« aus dem Jahr 1980 bis »Abschied und Anfang – Ostdeutsche Porträts« aus dem Jahr 1991.

Sein Auftrag zur Zeugenschaft, den er früh angenommen hat, darf daher – ohne seine leidenschaftliche Neugier auf seine Umwelt leugnen zu wollen – nicht vorschnell als einvernehmliche Haltung missinterpretiert werden: »[I]ch wollte in Deutschland bleiben und dieses land und die mitmenschen kennenlernen. ja, ich würde hierbleiben, um zu fotografieren.«

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Eine frühe Variante seines Lebenslaufs reiht leporellogleich seine Lebensstationen als imaginäre »Einzelbilder« hintereinander:

»Erstes Bild: 1939 photographiert der elfjährige Juristensohn aus Liegnitz in Schlesien mit blankgeputztem Objektiv den Untermieter der Familie. Heldentenor Krywanger wünscht Porträts für seine Bewunderinnen.

Zweites Bild: 1943 arbeitet der Schüler in einem Breslauer Photoladen, schneidet auf den Trockenboden die Amateur­filme ab, tascht sie ein; abends lernt er bei der Kinderphotographin Grete Bodlée.

Drittes Bild: 1945 flüchtet Moses, dessen Name im Dritten Reich einem Todesurteil gleichkommt, aus dem Arbeitslager Drachenberg [Trachenberg]. Bis zum Tag der Befreiung führt er in Hirschberg den Film ›Kolberg‹ vor, Flüchtlinge bevölkern das verrauchte Kino.«

Das vierte von insgesamt sieben Bildern seines »Leporellos« zeigt Stefan Moses, seine zwischenzeitliche Festanstellung in Weimar und eine sehr kurze Zeit in Babelsberg nur streifend, bereits auf dem Sprung nach München:

»Viertes Bild: Ende der vierziger Jahre, trampt Moses von Weimar (wo er als Theaterphotograph mit Bert Brecht, Thomas Mann und Hermann Abendroth zusammentrifft) nach West-Berlin, um „West“-Photopapier einzuhandeln.«

Am Theater
in Weimar

Stefan Moses Gesellenbrief trägt das Datum des 9. Mai 1947. Nur zwei Jahre liegen zwischen diesem errungenen Erfolg und dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine frühe Fotografie aus der Erfurter Zeit zeigt Stefan Moses tief in Arbeit und Unterlagen versunken in seiner Wohnung in der Stolzestraße 33 – eine Arbeits- und Schreibszene, die sich an allen folgenden Stationen wiederholen und fotografisch festgehalten werden wird.

Bereits am 31. Januar 1947 nimmt Stefan Moses eine Anstellung am Deutschen Nationaltheater der DDR in Weimar an. Beiträge in der Theaterzeitschrift »Der Spiegel. Blätter des deutschen Nationaltheaters Weimar«, in der Tagespresse und in Programmheften zeigen seine Fotografien.

Als Thomas Mann und Katia Mann zwei Jahre später aus Anlass der Feierlichkeiten zu Goethes 200. Geburtstag 1949 bei ihrem für Kontroversen sorgenden Besuch von Ost- und West-Deutschlands nach Weimar kommen, proträtiert Stefan Moses die beiden.

Stefan Moses Fotografien des Schriftsellers Thomas Mann und seiner Frau Katia in Weimar rufen die Erinnerung wach nicht nur an den Besuch des namhaften Emigranten, sondern auch an die damit korrelierenden kulturpolitischen Kontroversen in West- und Ostdeutschland im »Goethejahr« 1949, im Kalten Krieg.
Stefan Moses Fotografien des Schriftsellers Thomas Mann und seiner Frau Katia in Weimar rufen die Erinnerung wach nicht nur an den Besuch des namhaften Emigranten, sondern auch an die damit korrelierenden kulturpolitischen Kontroversen in West- und Ostdeutschland im »Goethejahr« 1949, im Kalten Krieg. / © DKA, NL Moses, Stefan, 279, © archiv stefan moses

Nolens volens bilden diese frühen Fotografien den Auftakt seiner Foto-Serie berühmter Emigrantinnen und Emigranten, die ihn sein Leben lang in Atem halten wird.

Das Wirkungsfeld von Stefan Moses beinhaltet bereits in seiner Zeit in Weimar Aufnahmen im öffentlichen Raum
Das Wirkungsfeld von Stefan Moses beinhaltet bereits in seiner Zeit in Weimar Aufnahmen im öffentlichen Raum / © DKA NL Moses, Stefan, 135, © archiv stefan moses

»Die ganze Welt ist eine Bühne! Und wir alle sind die Darsteller im großen und kleinen Welttheater und spielen miteinander.«

Stefan Moses

Einem Arbeitszeugnis der Generalintendanz des Deutschen Nationaltheaters und der Weimarischen Staatskapelle vom 1. Juli 1950 lässt sich entnehmen, dass Stefan Moses von Beginn an Szenenaufnahmen zu den Theateraufführungen angefertigt und inhaltlich Schauspiel, Oper und Operette bedient hat. Man habe, so attestiert das Arbeitszeugnis, den jüngsten Theaterfotografen, als »sehr angenehme[n] Mit­ar­beiter« empfunden, der Schwierigkeiten zu meistern verstand, ausgestattet mit künstlerischem Ernst: »Das von ihm gelieferte Bildmaterial war in technischer und künstlerischer Beziehung aus­ge­zeichnet. Die Aufnahmen fanden Verwendung in den Programmheften, in den Werbeprospekten, in der Tagespresse und in den illustrierten Zeitschriften.«

Mit Bedauern hält man seinen Weggang fest: »Wir sehen ihn nur ungern scheiden.« Dass sich Stefan Moses in Weimar in besonderer Weise als Lernenden, der mit wachem Auge alles aufnimmt, begriffen hat, deuten spätere Aussagen an: »Dort wuchs auch ein besonderes Gespür für Figurenkonstellationen und ›dramatische‹ Höhepunkte, einfach ein Gespür für die theatralischen Situationen im Alltagstheater. Denn: Die ganze Welt ist eine Bühne! Und wir alle sind die Darsteller im großen und kleinen Welttheater und spielen miteinander.«2

Überzeugt von der Qualität des jungen Fotografen engagiert der Generalintendant des Weimarer Theaters Hans-Robert Bortfeldt, der im Frühjahr 1950 zum Chefdramaturgen der DEFA berufen wird, Stefan Moses für die Filmstudios Potsdam-Babelsberg. Der dort jedoch spürbare starke politische Druck lässt Stefan Moses weiterziehen.

Rasender Reporter – nicht nur in München

In München, einem Ort unzähliger Entfaltungsmöglichkeiten angekommen, ergreift Stefan Moses die vielen sich ihm bietenden Möglichkeiten mit beiden Händen und erprobt sich so facetten- wie erfolgreich. Zunehmend steigen seine Bekanntheit und die Nachfrage nach seinen Fotografien. Innerhalb eines Jahrzehnts führt ihn sein Engagement zum renommierten Magazin stern, ein wichtiger Schritt auf seinem Weg hin zum Erzähler im Medium Fotografie. Als Berufsbezeichnung steht in einem der frühen Ausweise »Bildberichter«. Ein Resultat einer ersten Reise nach Israel im Jahr 1960 ist die stern-Reportage »Wir sind das gelobte Land«, erschienen 1961. Ebenfalls für den stern reist Stefan Moses 1962 zur Fußball WM nach Chile.

1964 entsteht die Bildreportage »Juden in Deutschland«, die am 8. November 1964 im Heft 45 des stern erscheint und mit der Feststellung einsetzt: »Wir nehmen sie kaum wahr, so wenige sind es: Nur 23000 Juden leben in der Bundesrepublik. 1933, als Hitler die Macht an sich riß, waren es über 500000 in Deutschland. Von denen, die entkamen, kehren jährlich nur einige Hundert aus dem Ausland zurück. Die meisten sind alt.« Begleitet wird die Bildreportage von einem autobiographischen Essay Robert Neumanns, der anti- und philosemitische Alltagserfahrungen beschreibt, um den Lesenden deren gesellschaftliche Omnipräsenz vor Augen zu führen.

Bei genauerer Betrachtung kreist der verschiedene Generationen in den Blick nehmende Beitrag um die Frage des Zurückkommens nach dem Ende der NS-Zeit, um Bleiben und Gehen, eingefangen in Foto­grafien und Bildunterschriften. Die eröffnende Doppelseite zeigt beinahe in Lebensgröße die damals fünfzehnjährige, direkt in die Kamera blickende Rachel Salamander. Dieses großformatige Er­öffnungs­porträt steht in absichtsvollem Kontrast zur benachbart positionierten wesentlich kleineren Fotografie einer Gruppe von Bewohnerinnen und Bewohnern aus dem Altersheim der Israelitischen Kultusgemeinde Würzburg. Während Rachel Salamander als Vertreterin der jungen Generation vorgestellt wird, im Begriff, Deutschland zu verlassen, erscheinen die Altersheimbewohnerinnen und -bewohner als Rückkehrer, über deren unterschiedliche vorherigen Lebensstationen freilich nichts gesagt wird: »Heimwehkrank kamen sie nach Deutschland zurück. Ein jüdisches Altersheim in Würzburg gab ihnen Asyl. Die Jungen aber drängt es nach draußen. Rachel Salamander (links) ist Zionistin. Sie will nach Israel […].«

Dass die Jugendliche Rachel Salamander wie eine Ausnahmeerscheinung gewirkt haben muss, deren Stimme künftig internationales Gewicht besitzen würde, scheinen die Verantwortlichen für den Beitrag bereits vor dem Beginn von Rachel Salamanders beeindruckender Laufbahn geahnt zu haben. Mit ihren elf Fotografien eröffnet die Dokumentation unterschiedliche Perspektiven auf deutsch-jüdische Biographien der frühen 1960er-Jahre. Der Beitrag schenkt den Einzelnen als Individuen Sichtbarkeit, um sie zugleich als Vertreterinnen und Vertreter ausgewählter Gruppen in den Blick zu nehmen. Durch Zitate und äußerst kondensierte biographische Notizen erhalten die Dargestellten eine Stimme und Verortung in der Gegenwart: »Aus Israel kehrt der Antiquar Jacky Renka zurück. Seine Kinder gehen in München zur Schule. ›Ich wollte es noch einmal versuchen. Ich bin schließlich Deutscher.‹«

Selbständiger Wanderfotograf

»Überall wo ein Gesicht oder eine Arbeitskleidung mich fesselte, spannte ich ein graues Tuch auf und bat die Menschen vor die Kamera.«

Stefan Moses

Der Klappentext für Stefan Moses Band »Transsibirische Eisenbahn. Sechsundzwanzig Photogeschichten« lässt ihn zurückblicken auf seine Lebensstationen bis zum Zeitpunkt der Buchentstehung. Hoffnungsvoll deklariert er diesen Band als den »Zwischenbericht« eines zuversichtlich nach vorne blickenden, unabhängigen Fotografen, zu dem er sich entwickelt hat:

»1965, nach fünfzehn Jahren als ›Rasender Reporter‹ in vier Erdteilen, wird er »freier Photograph«. Das Buch ›Manuel‹, das erste Buch in Photoessays, erscheint 1967. 1978 beginnt Stefan Moses mit der Auswahl für die ›Transsibirische Eisenbahn‹, ein Zwischenbericht seiner Arbeiten aus den letzten zwanzig Jahren.«

Stefan Moses bei der Bildauswahl zu seinem Buch »Transsibirische Eisenbahn«, 1979
Stefan Moses bei der Bildauswahl zu seinem Buch »Transsibirische Eisenbahn«, 1979 / © DKA NL Moses, Stefan, 74, © archiv stefan moses

Im zeitlichen Zwischenraum von »1936 entdeckt der Achtjährige«, womit die erste Station eröffnet wird, und dem abschließenden »1978 beginnt Stefan Moses« mausern sich Neugier und Interesse des Kindes zu professioneller Passion. Und in der Tat, das Buch spannt einen großen Bogen, zeigt einschneidende Begegnungen und erfolgreiche Arbeiten. Der Band lässt Personen wieder auftreten, die schon zuvor die Bühne seiner Reportagen bevölkert haben und stellt (nach seinem erfolgreichen Buch »Manuel«) die zweite seiner Publikationen in Sequenzen dar. Eine für Stefan Moses Arbeitsweise charakteristisch erscheinende Fotografie zeigt ihn auf dem Boden kniend, aus möglichen Fotos auswählend – unterstützt von seiner Katze und seinerseits im Begriff, die Beute zu erhaschen.

In den folgenden Jahrzehnten werden langfristige Fotoprojekte, die in den 1960er-Jahren ihren Anfang genommen haben – etwa die Bildserien »Die großen Alten«, »Selbst im Spiegel«, »Künstler machen Masken« und natürlich der Emigrantinnen und Emigranten – seine Arbeit begleiten und untereinander immer wieder neue Formationen bilden.

Medium Fotobuch

Bereits in den ersten Münchner Jahren nähert sich Stefan Moses jenem Metier, das ihn zeitlebens beschäftigen und noch bekannter machen soll: dem Konzipieren und Realisieren von Fotobüchern. Am Anfang steht 1967 sein sogleich erfolgreicher Band »Manuel. Ein Bilderbuch«, der ein Jahr im Leben seines Sohnes in Fotosequenzen zeigt. Mehrere Fotobücher und 39 Jahre später erscheint 2006 im S. Fischer Verlag unter der Schirmherrschaft von Monika Schoeller ein Fotobuch, das Fotograf und Verlag der Wiener Autorin Ilse Aichinger (1921–2016) widmen: »Ilse Aichinger – Ein Bilderbuch von Stefan Moses«.

Abgebildet und erzählt werden Leben und Lebenswerk der Autorin von ihrer Kindheit bis ins hohe Alter.

Stefan Moses fotografiert die Autorin Ilse Aichinger 2005 im Rahmen seiner Vorbereitungen des »bilderbuchs« in Wien
Stefan Moses fotografiert die Autorin Ilse Aichinger 2005 im Rahmen seiner Vorbereitungen des »bilderbuchs« in Wien / © DKA, NL Moses, Stefan, 136, © archiv stefan mose

»Ilse Aichingers wunderbare ›Spiegelgeschichte‹ berauschte mich schon früh. Ihre Sprachmelodie con variationes mit all den Umkehrungen machte mich verliebt und süchtig.«

Stefan Moses

Innerhalb von drei Jahrzehnten besucht Stefan Moses die Schriftstellerin und ihre Familie immer wieder. Ilse Aichingers sprachlich und erzähltechnisch höchst anspruchsvolle Texte finden ihre Entsprechung in einer aufwendigen Komposition der Bilder. Die zahlreichen überlieferten Vorarbeiten und Fahnen­korrekturen offenbaren, mit welcher Akribie Stefan Moses auswählt und arrangiert: Bildausschnitt, -format und -abfolge treten in einen spannungsvollen Dialog mit der Typografie und der Gruppierung der Texte.

Wiederholungstrukturen und spiegelbildliche Anordnungen loten das erzählerische Potential der Gattung Fotobuch aus und begreifen sich als Antworten auf die komplexe Poetik der Dichtung Ilse Aichingers. In Summe vermitteln die Fotografien, gewechselten Briefe und der Band selbst den Eindruck auch künstlerischer Nähe. Der Band vereint konzeptionell Texte aus sämtlichen Schaffensphasen Aichingers und Fotos möglichst aller gemeinsamen Begegnungen. Hinzu kommen ausgewählte Fotos der frühen Familienalben, die Ilse Aichinger zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Helga Michie (1921–2018) zeigen, die 1939 vor Kriegsausbruch mit einem der letzten Kindertransporte aus Wien nach London emigrieren kann.

Die Erfahrung, im Nationalsozialismus als Kinder mit jüdischen Großeltern verfolgt worden zu sein, hat Ilse Aichinger und Stefan Moses zeitlebens verbunden. Mit einer Abfolge von Fotos porträtiert Stefan Moses die Autorin am Küchentisch sitzend und schreibend. Das Motiv der Küche und der von Aichinger gewählte Titel bilden eine Brücke zu ihrer 1959 erstveröffentlichten Erzählung »Kleist, Moos, Fasane« mit dem markanten Textbeginn: »Ich erinnere mich an die Küche meiner Großmutter. Sie war schmal und hell und lief quer auf die Bahnlinie zu. An ihren guten Tagen setzte sie sich auch darüber hinaus fort, in den stillen, östlichen Himmel hinein.« Diese bekannte Erzählung wird im »bilderbuch« wieder abgedruckt.

Zentral ist auf allen Aufnahmen der Küchentisch, der zugleich an die Entstehung von Aichingers Erstlingswerk »Die größere Hoffnung« erinnert – jenem literarischen Debut, in dem Ilse Aichinger in einem zuvor unbekannten literarischen Ton die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden aus der Perspektive des Mädchens Ellen darstellt. Von diesem Roman heißt es nicht nur, er sei am Küchentisch der Wiener Nachkriegswohnung von Ilse Aichinger und ihrer Mutter Berta Aichinger entstanden, von ihm existiert auch ein Foto, veröffentlicht mit dem ergänzenden Hinweis: »Der Tisch, an dem ›Die Größere Hoffnung‹ entstand«. Indem Stefan Moses Ilse Aichinger am Küchentisch schreibend und neben ihrer Mutter am Küchentisch sitzend fotografiert, öffnet er eine Tür in die Vergangenheit, die sich mit seiner eigenen Vergangenheit berührt. Ilse Aichinger wird literarisch antworten:

»Vertragen es Erinnerungen, ernst genommen zu werden? Das liegt an dem, der sich darauf einläßt. Stefan Moses holt sie aus den Räumen, in denen sie ganz gern bleiben wollen. Er macht sie beweglich und hilft ihnen, der Erinnerung an die Zukunft auf die Spur zu kommen. Und zu einem neuen Einverständnis mit Existenzformen, die sein Blick erst möglich macht.«

K.M., der Fotograf­­
als Kater

»Katzen waren immer meine Geliebtesten in allen Lebenslagen. Wohl seitdem ich als 6-Jähriger mit der Steinheil-Kamera meines verstorbenen Vaters unserem roten Kater auf dem Dachboden nachjagte, wurde ich selbst zum Kater. Mein ganzes Leben war immer kätzisch ausgelegt. Natürlich sind Katzen göttliche Zauberwesen und mit der Katzen­göttin Bastet vor 5000 Jahren vom ägyptischen Himmel herabgeflogen. Und seitdem begleiten, trösten sie unser Erdenleben. Ein Leben ohne Katzen wäre möglich: aber letztendlich sinnlos.«
Stefan Moses in einem Fax-Interview, 2015

 

Zwei von Stefan Moses 1989 fotografierte Bezirksschornsteinfeger aus Ostberlin...
Zwei von Stefan Moses 1989 fotografierte Bezirksschornsteinfeger aus Ostberlin...
... werden auf einer Postkarte zur Ausstellung „ende mit wende – DDR“ zu zwei schwarzen Katern / DKA, Nachlass Moses, Stefan, 241, © archiv stefan moses
... werden auf einer Postkarte zur Ausstellung „ende mit wende – DDR“ zu zwei schwarzen Katern / DKA, Nachlass Moses, Stefan, 241, © archiv stefan moses

Vielleicht begründet jene spezifisch »kätzische« Perspektive auf die Menschenwelt die empfundene Verwandtschaft: der Fotograf als scheinbar unbeteiligter Beobachter, doch stets bereit zum Sprung und zur Jagd nach dem nächsten Motiv. Immer wieder begegnen Katzen auf Stefan Moses Fotografien und Selbstporträts. In noch größerer Anzahl treten sie in seinem schriftlichen Nachlass auf: gezeichnet, die Briefunterschrift des Absenders ersetzend, als Collage, in Gestalt von Aufklebern oder als Motive einer kleinen von Moses angelegten Vintage-Postkarten-Sammlung. Auch die mit ihm Korrespondierenden antworten mit kätzischen Grüßen in Sprache und Bild – wie etwa die Fotografin Barbara Klemm. Eindrucksvoll ist ebenso das im Medium Postkarte realisierte Spiel der Weiterbearbeitung eigener und fremder Katzenbilder und deren Maskierung, so dass zwei von Moses fotografierte Berliner Schornsteinfeger der Wendezeit zu »Catmen« mutieren – geschmückt mit goldenen Herzen.

Als nicht weniger reizvoll erweisen sich die Botschaften, die Stefan Moses als Verfasser unter der Maske des Katers, im Namen des Katers – K.M. steht für »Kater Moses« – übermittelt und denen es an gewissen Eigentümlichkeiten keineswegs mangelt: an Wiederholungen und Übertreibungen. Ganz entfernt erinnern sich Lesende und Betrachtende an E.T.A. HOFFMANNS legendären Roman »Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern« erinnert, dessen selbstgefälliger Protagonist, der Kater Murr, beim Erstellen seiner in lehrhafter Absicht verfassten Autobiographie Textseiten weiterverwendet, auf denen Biographisches vom wahrhaft genialen Künstler Johannes Kreisler niedergelegt ist. Wie Murr greift Moses durch spielerische Aneignung und Bearbeitung, mit Hilfe von Pastiche, Camouflage und Collage, erprobte Verfahren aus Kunst und Literatur auf und schreckt wie Hoffmanns Kater nicht davor zurück, sich überliefertes Schriftgut zerschneidend zu eigen zu machen, um die somit geadelten Makulaturblätter via Fax in alle Himmelsrichtungen zu senden.

Auge und Linse. Der Fotograf als Kater, Postkarte aus seinem Nachlass
Auge und Linse. Der Fotograf als Kater, Postkarte aus seinem Nachlass / © DKA, NL Moses, Stefan, Nachlieferung 2020, © archiv stefan moses

Die analoge Welt ist aus den Fugen

In seinen unterschiedlichen Lebensphasen zeichnet STEFAN MOSES mithilfe der Schreibmaschine, den Bogen bisweilen etwas schief eingespannt, immer wieder Stationen seiner beruflichen Laufbahn nach, formuliert Briefe, schreibt Rech­nungen. Arbeit und Arbeiten in Wort und in Bild sind hier tief im analogen Zeitalter verwurzelt. In seinen letzten Lebens­jahren wird der mittlerweile international bekannte Fotograf 2014 in Versalien festhalten: »Die analoge Welt ist aus den Fugen/ Und die digitale nichtmehr einzurenken.« Diese späte (Selbst-) Reflexion findet sich auf unterschiedlichen Archivalien, mal mit mehr, ein andermal mit weniger Begleittext, mit und ohne Selbstporträt: auf Bütten- und personalisiertem Briefpapier, Original und mit dem Kopierer vervielfältigt, mit Melancholie und Ironie, Pathos und Theatralik, handschriftlich unterschrieben »Ihr herzlich alter stefan moses«.

Die Interviewfrage, ob er auch mit moderner elektronischer Technik des Fotografierens und Entwickelns arbeite, verneint Stefan Moses klar und antwortet der Journalistin Carla Andriola-Joraschky: »ich arbeite noch wie im 15. Jahrhundert: also ohne digitale Elektronik und ohne Netz, jeden Tag ist für mich alles wieder neu, und ich habe alle Technik vergessen und muß von vorne anfangen.«3 Aber so entschieden die auf das Fotografieren bezogene Antwort zunächst klingt, so doppelbödig und ironisch mutet sie an. Ohne sein Arbeiten am Bild und am Wort gleichsetzen zu dürfen, lässt bereits Stefan Mosesʼ unkonventionelle Art, Kopier- und Faxgerät zu benutzen, erahnen, wie individuell er sich die modernen Techniken angeeignet hat. Der von ihm gesetzte Anachronismus ist voller Humor, das Bild des Trapezkünstlers aus dem 15. Jahrhundert eine sprachliche Verkleidung, um Tragweite und Grenzen der Netze unterschiedlicher Zeiten miteinander in Bezug zu setzen: seien diese in schwindelnder Höhe gespannt, auf den virtuellen Raum oder die den Menschen umgebende Atmosphäre der sozialen Medien gemünzt. Zwischen den Zeilen ist zu lesen, dass der Mensch an erster Stelle steht und wichtiger ist als analoge und digitale Techniken. Die Möglichkeit, dass die Entwicklungen der neuen digitalen Medien in der Cloud des Jenseits eine Fortsetzung erfahren könnten, stellt – mit einem lachenden und einem weinende Auge – ein kurzes Abschiedsgedicht in Aussicht:

»Jetzt flieg ich bald in Wolke 8 / ­Wo man heisses Facebook macht / ­und auf der Party ewig lacht!«

Stefan Moses

Der Stifter – ­
die Stifterin

Im November 2011 übergibt Stefan Moses den ersten Teil seines schriftlichen Nachlasses dem Deutschen Kunstarchiv im Germanischen Nationalmuseum als Schenkung. Drei Jahre zuvor hatte Birgit Jooss, die damalige Archivleiterin, den Gesprächsfaden aufgenommen. Erste Spuren dieses Austauschs sind in  Gestalt collagierter Postkarten und mit Zeichnungen versehener Fax-Briefe im Vorgang erhalten geblieben. Beim Lesen dieser Zeugnisse hat es beinahe den Anschein, als bedanke sich der Stifter Stefan Moses beim Archiv – dabei ist er es, dem anhaltender Dank gebührt. Auch die Graphische Sammlung des GNM wird von Stefan Moses mit Porträts von Emigrantinnen und Emigranten bedacht.

Vorhang auf mit Dank für Stefan Moses und Else Bechteler-Moses. Als Ort ihres analogen Auftritts hält die Bildbeschriftung auf der Rückseite fest: »elsa stefan m. engl. Garten München 1982«.
Vorhang auf mit Dank für Stefan Moses und Else Bechteler-Moses. Als Ort ihres analogen Auftritts hält die Bildbeschriftung auf der Rückseite fest: »elsa stefan m. engl. Garten München 1982«. / © DKA, NL Moses, Stefan, 258, © archiv stefan moses

Seit dem Tod des Fotografen ist es seine zweite Frau, die Künstlerin Else Bechteler-Moses, die dem Archiv immer wieder Archivalien als Schenkung übergibt. Diese Nachträge sprechen von der durch Publikationen und Ausstellungen zum Ausdruck kommenden ungebrochenen Wertschätzung ihres verstorbenen Mannes. Wie der große Dank des GNM und des DKA wird auch die Begeisterung derer anhalten, die in Zukunft Einsicht nehmen in diesen wertvollen Nachlass des Menschen, des Künstlers und Regisseurs Stefan Moses.

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Über das Porträt

Ein Erinnerungsstück von
Deutsches Kunstarchiv (DKA) im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg (GNM)
www.gnm.de

Autorin: Dr. Susanna Brogi, Leiterin Deutsches Kunstarchiv im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg

Gestaltung und redaktionelle Bearbeitung: Dr. Jessica Popp, AsKI e. V.

Techn. Bearbeitung von Bild-, Audio- und Videodateien: Franz Fechner, AsKI e.V.

Quellenangaben

Das Germanische Nationalmuseum Nürnberg (GNM) mit Sitz in Nürnberg wurde 1852 gegründet mit dem Ziel, Zeugnisse zur Geschichte und Kultur des deutschen Sprachraums zu sammeln. Es unterhält neben verschiedenen Sammlungsbereichen mit Objekten aus der Frühzeit bis zur Gegenwart weitere Forschungs- und Servicebereiche, darunter das Deutsche Kunstarchiv (DKA). Das DKA sammelt überwiegend schriftliche Dokumente von Einzelpersonen sowie von Institutionen aus allen Bereichen der bildenden Kunst, der Kunstgeschichte, des Kunsthandels und der Restaurierung vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart und wird kontinuierlich erweitert.

Danksagung
Der große Dank von Archiv und Museum gilt Else Bechteler-Moses. Wir danken für die Übergabe zahlreicher Archivalien auch nach dem Tod ihres Mannes Stefan Moses und für die Erlaubnis, Fotografien in diesem Ausstellungskontext zu zeigen.

Für Auskunft, Rat und vielfältige Unterstützung möchten wir außerdem Johanna Breede, Berlin, und Sven Koch, München, unseren herzlichen Dank aussprechen.