»Meine Arbeiten sind meine Aussage, eine schweigende Verbundenheit mit Menschen, die alles Trennende ausschließt. Das bleibt und wird nicht weniger.
Berührend und einzigartig ist die Sammlung der rund 1.900 Kinderzeichnungen, die JULO LEVIN als Zeichenlehrer an der Privaten Jüdischen Volksschule in Düsseldorf und an verschiedenen jüdischen Schulen in Berlin zwischen 1936 und 1941 zusammengetragen hat. Sie sind nicht nur Zeugnisse für das in der künstlerischen Moderne virulente Interesse an sogenannter Kinderkunst sowie an einem reformpädagogisch inspirierten Kunstunterricht, sondern vor allem eine einzigartige Hinterlassenschaft jüdischer Schüler und Schülerinnen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Die Rettung der Zeichnungen vor der Gestapo war dem Maler und Kunstpädagogen ebenso wichtig wie die seiner eigenen Werke.
JULIUS »JULO« LEVIN wird am 5. September 1901 in Stettin, Pommern, geboren. Seine Eltern, LEO und EMMA LEVIN, sind liberal eingestellte, dem Bürgertum zuzurechnende Juden. Julo Levin und seine älteren Geschwister MARTIN und ELSE wachsen ohne den Vater auf, der die Familie früh verlässt.
Bereits in der Kindheit zeigt sich Levins Interesse an Bildern. Er ist ein eifriger Sammler der Bildchen, die den Schokoladentafeln der Firma Stollwerck beigelegt waren. In der Pubertät beginnt er, Skizzen von Bäumen und Tieren sowie Portraits seiner Freunde anzufertigen. Nachdem zunächst eine kaufmännische Laufbahn für ihn vorgesehen ist, kann er doch im Einverständnis mit der Familie 1920 das Kunststudium beginnen.
Er besucht zunächst die Kunstgewerbeschule in Essen (heute Folkwangschule), folgt von dort 1921 seinem Lehrer JAN THORN-PRIKKER an die Kunstgewerbeschule in München und 1923 an die Düsseldorfer Kunstakademie. Später wechselt er zu HEINRICH NAUEN bei dem er ein Meisteratelier innehat.
An der Düsseldorfer Kunstakademie vollzieht sich während LEVINS Studienzeit ein Generationenwechsel hin zur zeitgenössischen modernen Kunst. Nach seinem Abschluss 1926 wird Levin damit beauftragt, mehrere Wandgemälde für die »Große Ausstellung für Gesundheitspflege, Soziale Fürsorge und Leibesübungen« (Gesolei) in Düsseldorf, eines der größten Ausstellungsprojekte der Weimarer Republik, anzufertigen.
Dank seiner ersten Honorare kann LEVIN nach dem Studium mehrere Wochen in Paris leben und arbeiten. Als Maler ist Levin vom Expressionismus beeinflusst. Seine Bilder sind von kraftvollem Farbeinsatz und einem melancholischen Ausdruck geprägt. Sie zeigen vielfach Hafenszenen, Landschaften, Tiere und Porträts.
In den Folgejahren stellt Levin regelmäßig aus und wird Mitglied der nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten Künstlergruppe »Das Junge Rheinland«. Für deren Jahresausstellungen 1927 und 1928 steuert der Künstler mehrere Bilder bei. In dieser Zeit entstehen außerdem wichtige Freundschaften zu Künstlerkollegen wie den Malern OTTO PANKOK, PETER LUDWIGS, CARL LAUTERBACH und FRANZ MONJAU.
Die Künstlervereinigung »Das Junge Rheinland« wird am 24. Februar 1919 in Düsseldorf gegründet. Sie versteht sich als eine selbstständige Plattform für moderne Künstler der unterschiedlichsten Gattungen und will der zeitgenössischen Kunst Westdeutschlands größere Beachtung verschaffen.
Zu den wichtigsten Protagonisten gehören die Maler Gert Heinrich Wollheim, Arthur Kaufmann, Adolf Uzarski und Max Ernst. Nach der Abspaltung der »Rheingruppe« 1923 vereinigen sich 1928 beide Vereinigungen wieder zu einer Interessengemeinschaft unter dem Namen »Rheinische Sezession«.
1933 erlöschen durch die Gleichschaltung der Künstler und Künstlervereine das »Junge Rheinland« und die »Rheingruppe«. Ihre jüdischen und politisch linksstehenden Mitglieder sind der nationalsozialistischen Verfolgung ausgesetzt oder fliehen ins Ausland. 1938 verfügt die »Reichskammer der Bildenden Künste« auch die Auflösung der »Rheinischen Sezession«.
1931 folgt eine weitere Frankreichreise nach Marseille, die Levin durch die finanzielle Unterstützung seiner Mutter ermöglicht wird. In dieser Zeit entstehen zahlreiche Gemälde und Aquarelle mit Ansichten der Stadt, aber auch Portraits, wie das seines Freundes, des Schiffkochs, IBRAHIM KOUNTEL. Schließlich sind Levins Werke auch in Berlin, Nürnberg und in seiner Heimatstadt Stettin zu sehen. Dort gehört Levin der modernen Künstlergruppe »Das Neue Pommern« an.
Die Regierungsübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 bedeutet für LEVIN das faktische Ende seiner beruflichen Existenz als freier Künstler. Zwar wird Levin offensichtlich noch in die im September 1933 gebildete »Reichskammer für Bildende Künstler« überführt, doch ist er vor 1938 – wann genau, ist nicht bekannt – von dem, unter der Federführung JOSEPH GOEBBELS‘ betriebenen, Ausschluss jüdischer Künstler betroffen worden.
Ausstellungsmöglichkeiten ergeben sich nur noch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, so 1935 bei einer vom Jüdischen Kulturbund Düsseldorf organisierten Ausstellung »Düsseldorfer jüdische Künstler« im Gemeindehaus an der Grafenberger Allee und ein Jahr später im Jüdischen Museum Berlin bei der »Reichsausstellung Jüdischer Künstler«.
Sein früheres Engagement für die der KPD nahestehende »Assoziation Revolutionärer Bildender Künstler Deutschlands (Asso)« und seine Beziehungen zu bereits im Untergrund agierenden KPD-Mitgliedern führen 1933 und 1937 zu Verhaftungen durch die Gestapo. In dem Gemälde Hiob (1933/34) hat Julo Levin die Erlebnisse der Verfolgung, insbesondere die ihm bekannt gewordene Folterung seines gleichfalls inhaftierten Freundes, des Malers KARL SCHWESIG, künstlerisch verarbeitet.
»Er wurde ein Opfer der unmenschlichen nationalsozialistischen Judenverfolgung. Allen Entrechtungen zum Trotz, blieb er stets ein handelnder, vorausschauender und nur selten verzagender Mensch.«
Levin muss sich eine neue Existenz aufbauen und beginnt 1934 eine private Ausbildung zum Schreiner. Als Werkstatt kann er eine Garage am Haus der jüdischen Familie KRAFT nutzen. Bei ihnen trifft er seinen Studienkollegen, den Künstler FRANZ MONJAU, und dessen Frau MIEKE MONJAU wieder, die mit der Familie Kraft befreundet sind. Es entwickelt sich eine enge Freundschaft zu dem Ehepaar, die von entscheidender Bedeutung für die spätere Überlieferung der Werke Levins und seiner Sammlung von Kinderzeichnungen werden soll. Monjau hatte sich Anfang der 1930er-Jahre zum künstlerischen Lehramt entschieden. Kurz vor der Ablegung des Staatsexamens im September 1933 wurde er aufgrund seiner Verhaftung im Zuge der KPD-Aktion im Juni 1933 aus dem Schuldienst entlassen. Nach den Bestimmungen der Nürnberger Gesetze gilt Monjau als so genannter Halbjude, da seine Mutter Jüdin war; wie Levin kann er nicht mehr als Künstler arbeiten.
Ab 1936 unterrichtet LEVIN als Zeichenlehrer an der neugegründeten Jüdischen Volksschule in Düsseldorf. Zwar besitzt er keine pädagogische Ausbildung, doch sein relativ junges Alter und seine bereits entwickelten kunst- bzw. reformpädagogischen Auffassungen stimmen mit den Präferenzen des Schulleiters KURT HERZ bei der Zusammenstellung des Kollegiums überein.
Bereits vor dieser Tätigkeit hatte Levin aus künstlerischem und kunstpädagogischem Interesse begonnen, eine Sammlung von Kinderzeichnungen anzulegen. Sie steht damit im Kontext des in der künstlerischen Moderne geführten Diskurses um Kinderkunst und ist Zeugnis eines hiervon inspirierten, reformpädagogisch ausgerichteten Kunstunterrichts. Die Zeichnungen zeigen Motive zur jüdischen Geschichte und Kultur, wie beispielsweise zum Purim-Fest, aber auch zur antiken Mythologie und deutschen Literatur, Tierdarstellungen, Berufe oder typische Alltagsszenen. Vereinzelt spiegeln die Werke auch die politische Gegenwart wider: so zum Beispiel mit Blättern zum Thema »Abschied« – ein Hinweis auf die Emigration, die Zeichnung von Kriegsverletzten oder die Szene eines Hauses mit Hakenkreuzfahne. Die Sammlung ist ein einzigartiges Zeugnis deutsch-jüdischer Geschichte aus der Zeit des Nationalsozialismus. Über die Umstände ihrer Entstehung, die Biographien der jüdischen Schülerinnen und Schüler – und Levins eigene – ist die Sammlung untrennbar mit der Verfolgung und Ermordung der Juden verknüpft.
Als Reaktion auf den zunehmenden Ausschluss jüdischer Schüler und Lehrer aus dem allgemeinen Schulbetrieb, gründet die Jüdische Gemeinde Düsseldorf Anfang 1935 die Private Jüdische Volksschule. Die Schulräume befinden sich im Rabbinerhaus neben der Synagoge auf der Kasernenstraße. Noch im Gründungsjahr wird die Einrichtung von anfänglich sechs auf acht Schuljahre erweitert.
Zu Ostern 1936 kommt das neunte und Anfang 1937 das zehnte Schuljahr hinzu. So erhöht sich die Schüler- und Schülerinnenzahl von anfänglich 210 auf 387 im Mai 1936, um dann, bedingt durch die zunehmende Auswanderung von jüdischen Schülern und Schülerinnen, wieder abzunehmen.
Die Ausweisungen im Zuge der sogenannten Polenaktion Ende Oktober 1938 und die Forcierung von Auswanderung respektive Flucht nach der Pogromnacht vom 09./10. November 1938 sorgen dann für einen weiteren Rückgang der Schüler- und Schülerinnenzahlen. Im Oktober 1939 besitzt die Schule nur noch 66 Schüler und Schülerinnen. Der Unterricht findet zu dieser Zeit bereits im ehemaligen Gebäude der Düsseldorfer B’nai B‘rith-Loge auf der Grafenberger Allee 78 statt, das nach der Zerstörung von Synagoge und Rabbinerhaus in der Pogromnacht zum letzten Asyl der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf geworden ist.
Im Jahre 1938 zieht LEVIN nach Berlin, wo er an verschiedenen jüdischen Schulen, ebenfalls als Zeichenlehrer, tätig ist: an der Kaliski-Schule, der Holdheimschule, der Theodor-Herzl-Schule und der Privaten Höheren Schule der Jüdischen Kultusvereinigung. Levin setzt an diesen Schulen die Sammlung der Kinderzeichnungen fort. Die letzten Nachweise seiner Tätigkeit als Lehrer datieren auf den Herbst 1941; ob er darüber hinaus noch bis zur Schließung der letzten jüdischen Schulen im Juni 1942 lehrt, ist nicht bekannt. In Berlin entsteht sein letztes erhaltenes Ölbild: das Porträt seiner Mutter, die 1942 nach Theresienstadt deportiert wird und dort Anfang 1944 stirbt.
Von 1942 an arbeitet Levin als Hilfsarbeiter für die Jüdische Gemeinde Berlin, die auch von der SS zu Zwangsarbeiten herangezogen wird; nach dem Zeugnis MIEKE MONJAUS ist er so in seinen letzten Lebensmonaten mit der Reinigung der Güterwaggons beauftragt, die nach den Deportationen aus den Vernichtungslagern zurückkehrten. Am 7. Mai 1943 verhaftet die Gestapo Julo Levin in seiner Wohnung in Berlin. Am 17. Mai wird er nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Einen Tag zuvor schreibt er aus dem Sammellager Große Hamburger Straße, Berlin, noch einen Abschiedsbrief an seine Freunde.
»Heim konnte ich nicht mehr, was mir umso schmerzlicher ist, als ich Euch noch gerne gesehen und die Hand gedrückt hätte. Ich tue es in Gedanken. Laßt es Euch recht gutgehen, u. genießt die schönen Ferientage nach Möglichkeit. Auf baldiges, gesundes Wiedersehen. Grüßt Else, Hede, Cilli F., Inge und auch dort allen lieben Freunde. Ich werde immer an Euch denken.«
Seit 1941 lebte auch MIEKE MONJAU in Berlin und war mit JULO LEVIN in enger Freundschaft verbunden. In Erwartung der Deportation hat Levin ihr in seinen letzten Monaten seine eigenen Werke sowie die Sammlung der Kinderzeichnungen anvertraut. Sie erinnert sich, dass Levin die »Rettung der Schülerzeichnungen […] ebenso wichtig [war] wie die seiner eigenen Bilder. Er liebte jedes Blatt.« Monjau weiter: »So überlebten die vielleicht letzten Aussagen der Kinder vor ihrer Flucht, Auswanderung oder Deportation in den Tod.« (1988). Einen Teil der Sammlung hatte Julo Levin bereits anlässlich seines Umzugs nach Berlin seinem Freund, dem Maler CARL LAUTERBACH (1906-1991), geschenkt. Eine kleine Auswahl von Kinderzeichnungen nahm Levins Schwester ELSE bei ihrer Emigration 1939 nach England mit.
Aus allen drei Quellen erfolgt ab den 1980er-Jahren der Erwerb der Sammlung durch das Stadtmuseum Düsseldorf, das auch den größten Bestand an eigenen Werken Levins besitzt. Eine Auswahl der Kinderzeichnungen und von Gemälden Levins ist dauerhaft in der Sammlungspräsentation des Museums ausgestellt.
2025 ist die Sammlung der Kinderzeichnungen Julo Levins in das UNESCO-Register Memory of the World / Weltdokumentenerbe aufgenommen worden ist. Die Aufnahme erfolgte gemeinsam mit 16 weiteren internationalen Sammlungen von Kinder- und Jugendzeichnungen unter dem Titel „Zeichnungen von Kindern und Jugendlichen des 20. Jahrhunderts in Krieg und Frieden (1914 – 1950)".
»Leben und Werk Julo Levins sind ein Ansporn für uns, so zu handeln, dass alle Mitbürger in unserem Land in Frieden und ohne Angst leben können.«
Auf die Initiative MIEKE MONJAUS hin gründete sich 1997 die Stiftung Monjau/Levin, die dem Andenken an FRANZ MONJAU und JULO LEVIN sowie der Förderung ihres künstlerischen Werks gewidmet ist. In Fortführung der Arbeit Mieke Monjaus bewahrt sie das Erbe der beiden Künstler und vermittelt es an die heutigen Generationen.
Im Jahr 2003 erinnerte die Stadt Düsseldorf mit der Benennung des »Julo-Levin-Ufers« im Medienhafen an sein Lebenswerk. Die Stiftung Monjau/Levin ließ ihm zu Ehren dort eine Stele errichten.
2015 hat die Stiftung die Einrichtung des neu entstandenen Julo-Levin-Raums in der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf unterstützt. An der Immermannstraße 68, Düsseldorf, wo sich einst Levins Wohnung und Atelier befand, erinnert ein Stolperstein an den Künstler und Kunstpädagogen.
»Und ab und zu werdet Ihr ja auch nochmal an uns hier denken und Euch an die alten Zeiten erinnern, die nun schon so weit zurückliegen. Aber die Zukunft wird hoffentlich besser, und das wünsche ich besonders für Euch dort.
In alter Freundschaft
Immer Euer Julo«
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Ein »Erinnerungsstück« von
Stadtmuseum Düsseldorf
www.duesseldorf.de/stadtmuseum
Autor:innen: LAURA HEISE, Stadtmuseum Düsseldorf, Wissenschaftliche Volontärin und BERND KREUTER, Stadtmuseum Düsseldorf, Leiter der Sammlungen 20./21. Jh. / Grafische Sammlung
Gestaltung und redaktionelle Bearbeitung: LENA-SOPHIA IBE, Studentische Hilfskraft des ASKI e.V.
Techn. Bearbeitung von Abbildungen, Audio- und Videodateien: LENA-SOPHIA IBE, Studentische Hilfskraft des ASKI e.V.
Das Stadtmuseum Düsseldorf
Das 1874 gegründete Museum ist das älteste der Stadt Düsseldorf und umfasst in seinen Sammlungen die Kunst, Kultur und Geschichte der Landeshauptstadt sowie ihrer europäischen Regionen von der Frühgeschichte bis heute. Exponate aus dem Alltagsleben und dem höfischen Bereich, eine umfangreiche Porträt-Sammlung, topographische Ansichten, Pläne, Mode, Videos, Fotografien und Dokumente laden ein, die Geschichte der Stadt zu erforschen.
Eine Auswahl der Werke JULO LEVINS und der von ihm gesammelten Kinderzeichnungen ist dauerhaft in der Sammlungspräsentation des Stadtmuseum Düsseldorf ausgestellt.