»Das einzige, was mir geblieben ist, was mir gehört, was man nur für mich gemacht hat, ist mein Buch, ein Buch von meinem Vater. Dort spüre ich ihn, seine Tränen, seine Hoffnung, seine Angst.
Anlässlich des dritten Geburtstags seines Sohnes Tomás schuf der Grafiker und Karikaturist BedRich Fritta 1943/44 im Ghetto Theresienstadt ein Buch, das für Tommy zeitlebens das einzige Vermächtnis seiner Eltern darstellen sollte. Die behände gezeichneten und in leuchtenden Farben kolorierten Motive, die einem vermeintlich gewöhnlichen Alltag entnommen zu sein scheinen, führen die Hoffnungen und Sorgen Frittas vor Augen. Das Kinderbuch spiegelt so eindrücklich die existentielle Bedrohung durch den Terror des Nationalsozialismus.
Bedrich Fritta (eigentlich Fritz Taussig), geboren in Weigsdorf (Visnová) wird um 1930 in Paris künstlerisch ausgebildet, bevor er in der Hauptstadt der Tschechoslowakei als Grafiker sowie als Redakteur des »Prager Tagblatts« tätig ist. Mit politischen Karikaturen trägt er zu der Exilausgabe der Zeitschrift »Simplicissimus« bei, die in Prag von 1934 bis 1939 unter dem Titel »Simplicus« bzw. »Der Simpl« erscheint.
Ende des Jahres 1941 wird Fritta in das unweit von Prag gelegene Ghetto Theresienstadt interniert. Auch seine Frau Johanna (1909–1945) und der am 22. Januar 1941 geborene Sohn Tomás werden dorthin deportiert. Fritta leitet hier innerhalb der sogenannten Selbstverwaltung des Lagers den Zeichensaal der technischen Abteilung. Zusammen mit anderen Künstlern fertigt er auf Geheiß der SS-Kommandantur Propagandamaterial. Mithilfe des ausschließlich für diesen Zweck zur Verfügung stehenden Materials gelingt es, heimlich die grausame Wirklichkeit von Theresienstadt in Zeichnungen festzuhalten. Nachdem entsprechende Darstellungen bekannt werden, die das offizielle Bild des Ghettos beschädigen, werden deren Urheber samt ihren Familien eingekerkert und gefoltert. Ende Oktober 1944 werden Bedrich Fritta und Leo Haas, ebenfalls Künstler und Freund Frittas, schließlich nach Auschwitz deportiert, wo Fritta am 4. November entkräftet stirbt. Nachdem auch Johanna Fritta die Haft nicht überlebt, ist das Überleben des kleinen Tommy in Theresienstadt Erna Haas zu verdanken.
Theresienstadt
Der Ort Theresienstadt (Terezín) geht auf Kaiser Joseph II. zurück. Am Zusammenfluss von Elbe und Eger ließ dieser ab 1780 weiträumige Festungsanlagen errichten, welche er nach seiner Mutter – Maria Theresia – benannte. Im Zuge der Besetzung des Landes missbrauchten die Nationalsozialisten das tschechoslowakische Terezín für ihre Zwecke, indem sie zunächst die »Kleine Festung« als Gestapo-Gefängnis nutzten. Später, ab 1941, entstand dort ein Konzentrationslager, in das zunächst die jüdische Bevölkerung des »Protektorats Böhmen und Mähren« deportiert wurde. Nach außen hin suchte die NS-Propaganda, den Anschein einer jüdischen »Selbstverwaltung« zu wahren. Die vermeintlich mustergültige Organisation des Ghettos und die angeblichen Freiheiten der durchschnittlich 30.000 bis 40.000 Insassen inszenierte sie für die Öffentlichkeit unter anderem in Filmaufnahmen. Die meisten der Häftlinge, die am Propagandafilm »Der Führer schenkt den Juden eine Stadt« von 1944/45 mitwirkten, wurden anschließend deportiert und ermordet.
Tatsächlich fungierte Theresienstadt jedoch als ein Durchgangslager. Für die meisten der dort Inhaftierten war es lediglich eine Zwischenstation bei der Deportation in ein Vernichtungslager wie Auschwitz-Birkenau. Dass die offizielle Darstellung des Lagers durch die Nationalsozialisten keineswegs den wahren Umständen entsprach, unterstreicht die Tatsache, dass mehr als ein Viertel der in Theresienstadt Internierten dort zu Tode kamen.
»Dieses Buch ist das erste in der langen Reihe von Büchern, die ich dir noch malen will!«
Bevor sie verhaftetet werden, schaffen es Bedrich Fritta und Leo Haas noch, einige heimlich angefertigte Zeichnungen – und ein Kinderbuch, das Fritta als Geburtstagsgeschenk für seinen Sohn geschaffen hat – zu vergraben. Da das Versteck bis zur Befreiung des Lagers nicht entdeckt wird, kann der Überlebende Haas seine Arbeiten und die seines in Auschwitz verstorbenen Freundes im Sommer 1945 bergen.
Auf mehr als 50 Seiten entfaltet Frittas Buch »Für Tommy zum dritten Geburtstag in Theresienstadt« die idealisierte Lebenswelt des Kleinkindes, wie sie der Vater seinem Sohn wünscht. Die bittere Realität des Lagers scheint insbesondere auf dem Titelblatt auf, das den Blick des Jungen in eine trostlose Umgebung zeigt. Auf den folgenden Seiten wird sie nur indirekt thematisiert. So zum Beispiel, wenn Tommy ein Paket voller Lebensmittel erhält, Reisen in ferne Länder unternehmen kann, oder in der imaginären Zukunft eine große Auswahl an Musikinstrumenten zur Verfügung hat.
»Ich lebe, ich habe diese Chance bekommen, aber wo sind meine Eltern? Ich kann sie nicht sehen, lieben, hassen, verfluchen, streicheln, mit ihnen essen, sprechen, streiten.«
Tomás Fritta, der von Leo Haas, dem Leidensgenossen seines Vaters adoptiert wurde, erhält sein Buch – »das einzige, was mir geblieben ist, was mir gehört, was man nur für mich gemacht hat« – erst zu seinem 18. Geburtstag. Die Wünsche und Hoffnungen seiner Eltern, die den Holocaust im Gegensatz zu ihm nicht überlebt haben, erreichen den Sohn demnach erst spät. Neben der Bedeutung, die das Objekt als Vermächtnis seiner Eltern für Tomás Fritta-Haas erlangen sollte, reicht dessen Relevanz inzwischen weit darüber hinaus. Als ein historisches Dokument führt das Kinderbuch heute das unermessliche Unrecht und Leid, das Millionen widerfahren ist, exemplarisch und allgemeinverständlich vor Augen.
Wiederentdeckt wurde das Buch »Für Tommy zum dritten Geburtstag in Theresienstadt« in Regensburg. Der Slawist Prof. Dr. Walter Koschmal hat es wissenschaftlich bearbeitet und herausgegeben. Das Kunstform Ostdeutsche Galerie widmet dem Original-Buch im Frühjahr 2021 eine Ausstellung. Exemplarisch steht die Leihgabe dort für die Werke von KünstlerInnen jüdischen Glaubens in den Beständen des auf die Kunst des östlichen Europas spezialisierten Museums – darunter etwa Arbeiten von Hugo Steiner-Prag, Rudolf Levy, Julo Levin, Heinrich Tischler oder Ludwig Meidner.
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Ein »Erinnerungsstück« vom
Kunstforum Ostdeutsche Galerie, Regensburg
www.kunstforum.net
Autor: Dr. Sebastian Schmidt, Leiter der Grafiksammlung des Kunstforums Ostdeutsche Galerie, Regensburg
Gestaltung und redaktionelle Bearbeitung: Dr. Ulrike Horstenkamp, AsKI e.V.
Techn. Bearbeitung von Abbildungen, Audio- und Videodateien: Franz Fechner, AsKI e.V.
Das Kunstforum Ostdeutsche Galerie
Das Kunstforum Ostdeutsche Galerie in Regensburg ist ein Kunstmuseum mit einer herausragenden Sammlung und einem einzigartigen Fokus. Dieser liegt auf dem Kunstgeschehen im östlichen Europa. Auf den Spuren der deutschen KünstlerInnen, die hier früher lebten und wirkten, kann man in die Kunstgeschichte eintauchen und die Kunstgeschichten hinter den Werken entdecken. Die Dauerausstellung bietet eine solche Reise durch die Zeit und an verschiedene historische Orte. Wechselnde Ausstellungen lenken den Blick auch auf die heutige Kunst in Ostmitteleuropa und gehen aktuellen Fragestellungen nach.